Die Erzaehlungen 1900-1906
Kenntnis des hiesigen
Lebens gerade das war, was ihn von den Mitbürgern schied und ihnen fremd
machte. Um es kurz zu sagen: sein ganzes Tun hier war Selbstbeobachtung
und Selbstironie, und wenn er den alten Herrn Tapezierer Linkenheil oder
den jungen Friseur Wackenhut karikierte, so schnitt er mit jedem Striche weit mehr ins eigene Fleisch als in das des Gezeichneten. Und so war dieser Sonderling von Künstler, der den Ruf eines erdkräftigen Autochthonen und naiven
Heimatkünstlers besaß, in aller Heimlichkeit ein ganz verdorbener Mensch, da er sich über einen schönen und zufriedenen Lebenszustand lustig machte, den
er im Herzen liebte und beneidete. Er hatte die feindselige Abneigung gegen
alles intellektuelle Treiben, das nur die Gewohnheitssünder desselben Lasters haben.
Dieser junge Mann, der träg auf seiner Matte lag und das schöne, heitere
Flußtal betrachtete, war dieses Genusses gar nicht wert, und doch war er leider der einzige Gerbersauer, der dieses selben Genusses wirklich fähig war. Und
indem er die Karikatur des jungen Trefz nochmals begutachtete, blieb ihm
nicht verborgen, daß dieser Mann ein ebenso echter und gesunder Gerbersauer
war wie er selbst ein entarteter, und daß es der Zweck und der Wille der
Natur sei, an diesem Orte Wesen zu erzeugen und zu hegen, die dem jungen
Notarssohne glichen und nicht dem zeichnenden Ironiker. Und wenn er jeden
Prellstein der Stadt aufs treulichste abzeichnete, er konnte sich mit alledem niemals das urtümliche Heimatrecht erwerben, das er heimlich entbehrte und
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das der Notar zu jeder Stunde seines Lebens besaß und unbedenklich ausübte.
Dem jungen Lautenschlager konnte, als heimlichem Beobachter und Chroni-
sten des Lebens seiner Stadt, nicht verborgen bleiben, was ohnehin von der
Bürgerschaft beachtet und viel besprochen wurde, daß nämlich der junge Dr.
Trefz, noch über die Erbschaft des väterlichen Ansehens hinaus, mit Eifer
darauf bedacht war, in der Vaterstadt Ehre zu gewinnen. Er übernahm seines
Vaters Notariatsgeschäft. Das alte messingene Schildlein mit dem väterlichen Namen ließ er wegmachen und hängte dafür ein großes Emailschild mit seinem
eigenen Namen auf, wobei er auf den Zusatz des Doktortitels verzichtete. Ei-
nige Kollegen und Mißgönner schlossen daraus, dieser Titel stehe dem Sohne
Trefz überhaupt nicht zu; doch fand sich niemand, der das untersucht hätte,
und die seit Jahren daran gewöhnte Bürgerschaft redete nach wie vor den
studierten Notar mit dem schönen Ehrentitel an.
Mochte er nun Doktor sein oder nicht, jedenfalls nahm er seine Sache in die
Hand wie ein Mann, der Pläne hat und nicht gesonnen ist, auf den kleinsten
davon zu verzichten. Vor allem gab er sich Mühe, seine bedeutende gesell-
schaftliche Stellung von allem Anfang an zu betonen und zu sichern. Das war
nun keineswegs leicht und forderte manches Opfer, denn es gehörte zur Erb-
schaft seines Alten nicht nur das schöne Haus, Gut und Amt, sondern auch
der alte Ruf eines heimlichen Königs in der demokratischen Partei, den jedermann bereit war, auch dem Sohn zu gönnen. Der aber neigte im Herzen weit
mehr zur Beamtenschaft hinüber, er wäre sehr gern Reserveoffizier geworden
und hätte die Laufbahn eines Richters eingeschlagen, wäre er davon nicht kur-zerhand durch seinen Vater abgehalten worden. Nun stand er am Scheideweg,
heimlich voll Sehnsucht nach der Welt der Titel und Orden, von der Um-
gebung jedoch wie von der eigenen Vergangenheit auf eine bürgerliche Rolle
hingewiesen. Diese wählte er denn auch und tat nichts dagegen, daß jeder-
mann die achtundvierziger Taten seines Großvaters und die vielen Wahlreden
seines seligen Vaters als ein selbstverständliches Guthaben auf seine Person übertrug. Dagegen gab er in seinem Auftreten eine unwandelbare Achtung
vor Macht und Ehre kund, entfaltete eine mäßige, doch strenge Eleganz in
der Kleidung und drückte nicht jede Hand, die sein Vater gedrückt hatte. Er
wohnte bei der Mutter und genoß so den Vorteil, von Anfang an als Herr einer standesgemäßen Haushaltung dazustehen, wie er denn auch Besuche meist mit
der Mutter gemeinsam machte und empfing. Ohne das Geschäft irgend zu ver-
nachlässigen, tat er allen Anforderungen der Trauerzeit Genüge und brachte
jedes Opfer, das die Sitte verlangte.
So lenkte Hermann Trefz die Augen seiner Mitbürger auf sich und umgab
sich mit der schützenden Mauer eines tadellosen Rufes, während seine
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