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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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schattige Ruhe versank, wie über dem frischen, gelben Grabhügel der Gärtner die vielen Kränze ordnete, wie die Meisen und
    Amseln zurückkehrten und der grüne Winkel sein altes, verzaubert schlafendes Aussehen wiedergewann. Auch der Brühel, die Brühelstraße und die untere
    Brücke lagen jetzt wieder in ihrer Stille; die Kastanien, schon zum Blühen
    gerüstet, hatten ihr Vogelleben in den Ästen und ihre schweren Schatten um
    sich her.
    Lautenschlager war mit seiner heutigen Arbeit zufrieden und sonnte sich an
    seinem Grashang, sah über die spitzgieblige, steilgebaute Stadt und das enge Wiesental hinweg und blätterte zwischenein in seinem Taschenbuch, worin er
    das Leben dieser Stadt aufzuzeichnen pflegte. Der junge Mensch war sonderba-
    rerweise einer von den ganz wenigen Gerbersauern, die von ihren Mitbürgern
    mit Mißtrauen und fast mit Gehässigkeit betrachtet wurden und nicht richtig
    mit ihnen zu leben und zu reden verstanden, obwohl er seine Heimatstadt
    besser kannte und mehr liebte als irgendeiner. Schon daß er ein Künstler ge-
    worden war, paßte der Stadt nicht; doch verzieh man es ihm, da er neuerdings als Zeichner in großen Zeitschriften einen gewissen Namen gewonnen hatte.
    Warum er aber, da er nun doch mit seiner Kunst Glück zu haben schien, immer
    hier daheim saß, statt in Neapel oder Spanien viel schönere Gegenden zu ma-
    len oder in Kunststädten mit seinesgleichen zu leben, das verstand man nicht und deutete daran mit Mißtrauen. Ferner schuf er sich Verächter und bittere
    Feinde dadurch, daß er seit mehreren Jahren keine großen, schönen Bilder mit Burgen und Rittern mehr malte, wie er früher mehrere hier ausgestellt hatte, sondern statt dessen nichts anderes trieb als die Winkel seiner Vaterstadt und die Figuren ihrer Bürger auf kleine Blätter zu zeichnen. Das Schlimmste freilich war aber, daß er diese Figuren mit einer leisen, grausamen Übertreibung ins Komische zog und schon ganze Reihen von grotesken Philisterkarikaturen,
    deren jede man in Gerbersau wohl kannte, in Blättern veröffentlicht hatte.
    Jeder Betroffene zwar hatte sich getröstet und dadurch gerettet gefühlt, daß bald nach ihm selber sein Nachbar daran gekommen war; aber man fand diese
    ganz unwürdige Tätigkeit weder für den Maler noch für die Stadt ehrenvoll
    und konnte diese seltsame Art von Anhänglichkeit und Heimatliebe nicht be-
    greifen. Es war auch schwer mit ihm umzugehen. Oft sprach er wochenlang
    kaum mit einem Menschen und trieb sich in der Gegend umher, dann erschien
    er plötzlich wieder bei einem Abendschoppen, tat freundschaftlich und schien gar nicht zu wissen, wie wenig man ihn liebte.
    In Wirklichkeit wußte er das wohl. Er wußte genau, daß Behagen und Gleich-
    berechtigung für ihn hier in der Bürgerschaft niemals zu finden waren, daß
    seine Freuden und Gedanken niemand verstand und daß man seine Karika-
    turen für die Missetaten des Vogels ansah, der sein eigenes Nest beschmutzt.
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    Dennoch kehrte er, so oft er es eine Zeitlang mit dem Leben anderwärts ver-
    sucht hatte, immer wieder nach Gerbersau zurück. Er liebte die Stadt, er
    liebte die Landschaft, er liebte diese enggiebligen, alten Häuser und klobig gepflasterten Gassen, er liebte diese Bürger und ihre Frauen und Kinder, die Alten und jungen, die Reichen und Armen. Hier in der Vaterstadt gab es
    keinen Stein und kein Gesicht, keinen Gruß und keine Gebärde, die er nicht
    im Innersten verstand. Hier hatte er seit frühen Knabenjahren gelernt, Men-
    schen zu beobachten und die vielfältigen, lieben Wunderlichkeiten des Lebens mit Aufmerksamkeit zu betrachten, hier wußte er von jedem Hause und jeder
    Person hundert Geschichten, hier war alles kleinste Leben bis in die letzte
    Falte hinein ihm vertraut und durchsichtig. Er hatte auch an anderen Orten
    gelebt und Menschen und Städte angeschaut, er war in Rom und München
    und Paris gewesen, hatte sich an den Umgang mit gereisten und verwöhnten
    Menschen gewöhnt, deren hier keine zu finden waren. Er hatte auch in Rom
    und in Paris gezeichnet, und manches gute Blatt, aber nirgends ging sein Bleistift jeder launigen Geringfügigkeit so treu und aufmerksam und so beglückt
    nach, nirgends gewannen die Blätter einen so reinen, gesättigten Ausdruck,
    sprachen nirgends so rein und innig die besondere Mundart des Ortes. Er wuß-
    te nicht genau, wieviel Gerbersauer Philistertum in ihm selber stecke, doch
    wußte er wohl, daß seine unerbittliche und liebevolle

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