Die Erzaehlungen 1900-1906
und
unzufriedenen Lebens daran setzen, diese wunderliche Stadt und ihre Bürger
abzuzeichnen. Auf die Wanderung aber hatte er keinerlei Malzeug und nicht
einmal ein Skizzenbuch mitgenommen.
Während der zwei Wochen, die er ausblieb, ging in Gerbersau mancherlei
vor, das ihn zu anderen Zeiten interessiert hätte. Unter anderem beging die
Witwe Kimmerlen in der Diakonengasse ihre längst bekannte Quartalsfeier.
Diese Frau lebte seit dem Tode ihres Mannes als Besitzerin eines kleinen Hauses in auskömmlichen, ja reichlichen Verhältnissen, die sie jedoch aus Vorsicht und anerzogener Sklaventugend nicht genoß. Vielmehr vermietete sie das Haus
bis auf drei Zimmer und lebte wie eine arme Frau oder Dienstmagd, mit Wa-
schen und anderen niederen Arbeiten beschäftigt und in alten, geringen Klei-
dern gehend. Sie war jedoch eine Art von Quartalsäuferin und bekam einigemal im Jahre ihren Anfall, wobei sie sich in plötzlich ausbrechendem Leichtsinn
ihrer vergnüglichen Umstände erinnerte, die schönen Kleider ihrer besten Ta-
ge hervorsuchte und sich in eine Art von Dame verwandelte. Sie blieb alsdann am Morgen herrschaftlich lange liegen, legte dann die feinen Kleider an und
frisierte sich mit Hoffart, darauf bereitete sie ein gutes Mittagsmahl und legte sich nach diesem auf dem Kanapee eine Stunde oder zwei zur Ruhe. Gestärkt
trat sie sodann den Weg nach dem Keller an, trug zwei oder drei Flaschen
Wein herauf und setzte in der sonntäglichen Suppenschüssel eine Bowle an,
die sie reichlich zuckerte und stundenlang mit öfterem Kosten betreute, bis der höchste Wohlgeschmack erreicht war. Mit dieser Bowle setzte sie sich nun auf einen guten Platz am Fenster in den Lehnstuhl, trank langsam den Vorrat aus
und schaute dazu hochmütig auf die Straße hinab, wo häufig die Kinder sich
ansammelten, um sie bei ihrem einsamen Tun zu beobachten, wie sie dasaß,
zuweilen ein Glas leerte und mit dem einbrechenden Abend allmählich rot und
starr im Gesicht wurde. War die Schüssel leer, so war das Tagwerk beendet
und die Witwe suchte ohne Licht ihr Lager auf, um den folgenden Tag genau
auf dieselbe Weise zu beginnen und hinzubringen, bis sie genug hatte und mit Seufzen zum gewohnten ärmlichen Leben zurückkehrte. Lautenschlager hatte sie einmal gezeichnet, wie sie starr und gespenstisch an ihrem Fenster saß, schön gekleidet und hoch frisiert, einsam mit der großen Bowle beschäftigt. Er hatte eine Vorliebe für die sonderbare Frau, deren geheime Leiden und Fehler er wohl zu verstehen glaubte, und hatte sich schon oft vorgenommen, einmal
bei ihr Wohnung zu nehmen und sie besser kennenzulernen. Es war aber nie
dazu gekommen, denn der Künstler hatte zwar schon seit Jahren im Sinn, sei-
ne bisherige Wohnung zu verlassen, und hatte auch mehrmals gekündigt, war
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aber am Ende doch immer sitzengeblieben, wo er schon seit Jahren saß. Der
Dr. Trefz wurde während Lautenschlagers Abwesenheit in den Gemeinderat
gewählt. Es hatte ihm wenig Mühe gemacht, das zu erreichen, eine andere
Sache aber beschäftigte ihn zur Zeit sehr stark.
Es lebten in Gerbersau, neben anderen Nachklängen versunkener Zeiten,
auch einige Reste des uralten Zunftwesens fort. Die Mehrzahl der alten Zünfte freilich war eingeschlafen oder in gewöhnliche Vereine verwandelt worden. Zwei wirkliche Zünfte aber waren noch vorhanden, direkte Erben solcher mittelal-terlicher Institutionen. Davon war es die eine, die
Zunft zu den Färbern ,
die dem Notar so viel zu denken und zu wünschen gab. Diese Zunft war vor
Jahrhunderten eine patrizische und sehr vornehme gewesen, im Lauf der Zei-
ten aber nahezu ausgestorben, so daß sie zur Zeit nur noch aus drei ziemlich bejahrten Herren bestand, die zufällig alle drei Hagestolze waren. Diese drei hielten nach altem Brauch mehrmals im Jahr Zusammenkünfte, gaben jährlich
ein Zunftessen und einen Fastnachtsball und hatten in ihrem eigenen Hause,
das im übrigen vermietet war, eine besondere Zunftstube bewahrt, wo am
alten Getäfel die Bildnisse, Wappen und Andenken verschollener Geschlech-
ter hingen und wo die drei Spätlinge bei ihren seltenen Zusammenkünften an
einem gewaltigen, eichenen Tische saßen, der Raum für dreißig Gedecke bot.
Das Aussterben der Färberzunft war eine vielbesprochene Sache in Gerbersau,
denn diese Gemeinschaft besaß außer ihrem Haus ein stattliches Vermögen,
dessen jährliche Zinsen teils an die Erhaltung des Hauses und der Zunftstube, teils an den
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