Die Erzaehlungen 1900-1906
beim Rauschen
des vermoosten Friedhofbrunnens manche frühere Gänge zum selben traurigen
Ziele ihr einfielen, vom Gang hinter dem Sarg der Großmutter her bis zu dem
mit dem eigenen Kinde.
Hoch über dieser ganzen Feierlichkeit aber, auf halber Höhe des Berges im
Grase, lag derjenige, dem wir die meisten unserer Gerbersauer Kenntnisse
verdanken, der junge Hermann Lautenschlager, und sah der ganzen Sache
nachdenklich zu. Er nahm, trotz seiner Aufmerksamkeit für alle heimischen
Ereignisse, selten an ihnen selber teil, da er sich unter vielen Leuten nicht wohlfühlte, auch mangelten ihm die für solche Gelegenheiten vom Brauche
geforderten Kleider, die er sich als ein einsam lebender Mensch ohne Familie lediglich der Begräbnisse wegen nicht kaufen mochte. Desto genauer beobachtete er, was zu seinen Füßen vorging, und war vielleicht der einzige, der die ganze Bedeutung dieser Vorgänge kannte. Denn er liebte seine kleine Stadt
und wußte wohl, was jeder alte Weißbart und jeder grünschillernde alte Geh-
rock in einem solchen Gemeinwesen bedeuteten. So nahm er an dem Begräbnis
des alten Trefz in seiner Weise herzlich teil und hätte, wäre es darauf angekommen, wohl mehr als jeder andre Mitbürger dafür gegeben, den prächtigen
Herrn wieder lebendig in den Straßen wandeln zu sehen. Es tat ihm leid um
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diese vortreffliche Figur, und da er sie dem Leben verloren wußte, tat er das Seine, sie dem Andenken zu retten, und zeichnete den Notar Trefz aus dem
Gedächtnis in sein Taschenbuch, worin schon viele solche Figuren standen und wandelten. Er nahm bei dieser Gelegenheit, da er den Alten fertig hatte, auch gleich den Jungen vor, der ihm in seiner Würde und ansehnlichen Trauer kaum
minder gefiel. Er zeichnete mit leichten Strichen, die ihm keine Arbeit waren, die breite Gestalt vom glänzenden Zylinder bis zu dem Faltenwurf der schwarzen Hose, vergaß auch den leichten Fettwulst am saftigen Nacken nicht und
nicht das dicke, etwas schweinerne Augenlid; ja er tat diesen auszeichnenden Besonderheiten so viel Ehre an, daß sie bald die Hauptsache an dem Manne
zu sein schienen. Und da nun die ganze Figur trotz der ernsttraurigen Hal-
tung etwas durchaus Frohes, ja Feistglückliches erhalten hatte, gab er dem so gezeichneten Manne statt des Gesangbuches eine ungeheure Pfingstrose in die
Hand. Es wird später Zeit sein, dem Zeichner diese Neigung zu gelegentlichen Roheiten näher anzumerken.
Inzwischen verlief unten im schattigen Gottesacker die schöne Feier mit
allem Glanze. Es sprachen, nach der Rede des Dekans, der Stadtschultheiß
und der Vorstand des demokratischen Gesangvereins, es sprach der Senior
des Gemeinderates, und wer irgend sich zu den Berechtigten zählen durfte,
versäumte die feierliche Handlung nicht, an das offene Grab zu treten, hinab-zublicken und eine kleine Handvoll Tannenzweige hinunter zu werfen, worauf
er mit erschütterten Mienen zurücktrat, um sich die grünen Nadeln vom Geh-
rock zu wischen. Manche zeigten in diesem Tun eine bedeutende Übung und
Beherrschung der Formen, manche hatten auch Unglück und stolperten oder
trugen die aufgerafften Zweige wieder mit sich hinweg. Der alte Seelsorger sah dem allem in seiner Güte ernsthaft zu, legte der Witwe tröstlich die Hand auf den Arm und er sah bald den Augenblick, zum Schlußverse zu ermahnen, der
aus so vielen alten und jungen Kehlen schön und mächtig emporstieg und sich
in der lauen Malluft leise berganwärts verlor.
Für den in seiner grünen Höhe verweilenden Hermann Lautenschlager war
es nun ein schöner Anblick, die dunkle Menge in Haufen und zögernden Grup-
pen den Friedhof verlassen und über den Brühel und die Brücke hin sich
stadteinwärts verlieren zu sehen. Gar manche von den Trauergängern nahmen
den Anlaß wahr, die Gräber der eigenen Angehörigen zu besuchen und noch
ein wenig in dem vertrauten Raume zwischen den schiefen, grünen Mauern
zu verweilen. Alte Frauen bückten sich über frische oder verwahrloste Kreu-
ze, Kinder tasteten auf Grabsteinen den alten Inschriften nach, junge Frauen bogen an lieben Gräbern eine Rosenranke und einen verwilderten Efeuzweig
zurecht und kamen darüber ins Gespräch mit dem Friedhofsgärtner, der sich
während der Feier verloren hatte, nun aber wieder in der grünen Schürze mit
dem Grasrechen seiner Tätigkeit oblag.
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Schön war es auch zu sehen, wie nach dem Verlaufen der letzten Zögerer der
alte Kirchhof wieder in seine
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