Die Erzaehlungen 1900-1906
und
klappernden Pantoffeln.
Der Sammelwedel! Oha, der Sammelwedel!
schrien alle Jungen und rann-
ten gaßauf, gaßab davon. Ich aber hatte mich schon um die Hausecke gedrückt
und fühlte mich gerettet, während der Wütende meinen Kameraden nachjagte,
von denen er natürlich keinen erwischte.
Und nun geschah das Merkwürdige: der Sammelwedel verlor im Rennen
einen von seinen Pantoffeln – ich wie der Blitz hinterher, raffe den Pantoffel auf und verschwinde. Und Samuel hinkte halbstrümpfig ins Haus zurück. Es
war eine vollständige Niederlage.
Ich habe für diesen Pantoffelraub zwei Trachten Prügel und drei Stunden
Arrest bekommen, die eine Tracht zu Hause, die zweite samt Arrest in der
Schule. Unter meinen Kameraden aber hatte ich unsterblichen Ruhm erwor-
ben.
Eigentlich müßte ich jetzt auch noch erzählen, wie ich – von meinem Vater
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nach langem, zähem Trotz und Kampf gezwungen – dem Sammelwedel sei-
nen Pantoffel wieder hintragen und selber überreichen mußte. Aber das ist so beschämend.
(1901)
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Grindelwald
Der Schwindsucht zum Trotz hatte mein Freund Petrus Ogilvie fast die ganze
Erde bereist, und ich, der ich mein Zigeunerleben auf Europa beschränkte,
hatte ihn oftmals auf Reisen angetroffen. Kennen gelernt habe ich ihn, wenn
ich nicht irre, in der Bahn zwischen Nürnberg und München, einen hage-
ren Engländer von internationalen Manieren mit einem klugen, etwas bissigen
Habichtsprofil und stillen, gutmütig ironischen Augen. Er gehörte zu den Un-
befriedigten und trieb sich, da er wohlhabend war, als bescheidener Reisender in der Welt herum, erwarb sich gute Kenntnisse der Länder und Sprachen
und hatte Sinn für die schönen, kleinen Abenteuer, die man nicht in Hotels
und Bahnhöfen, sondern nur abseits im Volk, in Fischerhütten und Gebirgs-
herbergen erleben kann. Darin paßte er zu mir, und es traf sich, daß wir uns fast jedes Jahr einmal irgendwo unvermutet wiedersahen. Wir begegneten uns
Sommers in Zermatt, wir fuhren einmal zusammen von Venedig nach Fiume,
wir haben am Lido und in Rapallo miteinander gebadet und gerudert.
Nun war es über ein Jahr her, daß ich ihn nicht mehr gesehen hatte; ich
wußte nicht, ob er noch lebe, und hatte ihn fast vergessen. Da traf mich jenen Winter in Basel ein Briefchen von ihm:
Grindelwald, Hotel Bär.
Mein Bester! Ich höre, Sie seien in Basel. Wenn das wahr ist, und Sie noch
der alte sind, besuchen Sie mich doch für ein paar Tage oder Wochen! Ich
war das ganze letzte Jahr so krank, daß der Arzt mir für diesen Winter nur
die Wahl zwischen Davos, Grindelwald und dem Tode lassen wollte. Davos ist
schrecklich, der Tod ist bitter; also fuhr ich im November hierher, und jetzt befinde ich mich seit Wochen so wohl wie Gott in Frankreich. Ich mache die
tollsten Bergschlittenfahrten und bin eine der besseren Nummern auf dem Eis-
platz. Aber es fehlt mir Gesellschaft. Hier sind ausschließlich Engländer, und Sie wissen, wie sehr ich meine Landsleute liebe. Die romanische Rasse fehlt
durchaus; seit zwei Monaten habe ich kein Wort Französisch oder Italienisch
gehört. Deutsch natürlich auch nicht. Also wollen Sie kommen? Wir werden
schlitteln und eislaufen und uns amüsieren wie früher manchmal. Mich ver-
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langt sehnlich nach Ihren philosophischen Gesprächen.
Ihr Petrus Ogilvie.
Ich besann mich nicht lange. Zwei Tage später saß ich morgens im Zug und
fuhr so eilig, als es der behagliche Winterfahrplan erlauben wollte, dem Berner Oberland entgegen. Erst von Interlaken an fand ich die Landschaft beschneit.
An einem bleichen Nachmittag mit starkem Schneefall kam ich in dem tief
eingeschneiten Bergnest an. Gerade über der obersten schartigen Schroffe des Eiger hing hinter Schneewehen die Sonne weißlich fahl wie ein trüber Mond.
Sonst war nichts zu sehen als ein blendendes Schneetreiben, das die Häuser und Hotels von Grindelwald nur wie hinter schweren Schleiern erkennen ließ, ver-waschen und wesenlos wie Schatten . . . Trotz dieses Wetters fand ich Ogilvie nicht im
Bären . Er sei wohl schlitteln gegangen. Ich nahm ein Zimmer und
versuchte vergebens, mich in dem pompösen Riesenhotel heimisch zu fühlen.
Auch ein Gang über die nächste Dorfstraße war unbefriedigend und langweilig.
Es waren da, gerade wie im Sommer, die wohlbekannten, scheußlichen Holzbu-
diken, in deren Schaufenstern Gemshörner, Photographien, Bergstöcke, Holz-
schnitzereien und Bände der Tauchnitz Edition auslagen.
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