Die Erzaehlungen 1900-1906
>Erwin< fand
sich im Nachlaß Hermann Hesses, es ist bisher noch niemals veröffentlicht
worden. Die Erzählung, die vermutlich 1907 oder 1908 geschrieben wurde, be-
richtet von der Zeit und Welt, die in >Unterm Rad< (1903) geschildert ist.
Die Gestalt des Freundes und seiner Mutter erinnern von Ferne an >Demi-
an< und Frau Eva. Aber der Durchbruch zu >Demian< erfolgte erst im Jahre 1916.
Sowohl graphologische als auch inhaltliche Anhaltspunkte weisen dar-
auf hin, daß diese Erzählung früher, möglicherweise schon nach Abschluß von
Hesses Buchhandelslehre in Tübingen oder nach seinem Umzug, also in Ba-
sel, entstanden sein könnte. Hesse war damals gerade 22 Jahre alt und hatte
kurz zuvor, im Juni 1899, sein erstes Prosabuch die Traumdichtungen von
Eine Stunde hinter Mitternacht veröffentlicht, auf deren Symbolismus und
Ästhetizismus auch die poetischen Vorlieben des lungenkranken Erwin hin-
weisen. Nach einem vermutlich 1895 entstandenen VorläuferFragment
Die
Fremde
(siehe Jugendschriften SW 1, S. 86f.) wendet sich Hesse hier erst-
mals seiner Maulbronner Seminarzeit zu, Erfahrungen, die drei Jahre später
in Unterm Rad ihre definitive Gestalt finden sollten. Manches, wie die Begegnung des Ich-Erzählers Hermann mit Erwin am herbstlichen Weiher, scheint
Passagen aus Unterm Rad vorwegzunehmen, in dessen drittem Kapitel sich
Hans Giebenrath und Hermann Heilner am selben Ort treffen und anfreunden,
oder die Episode mit den Spott-Epigrammen an der Tür des Waschsaales, die
im vierten Kapitel des Romans wiederkehren. Anderes, wie die Beschreibung
des Klosters, des Seminars, der Schulkameraden und ihrer Beschäftigungen,
gibt neue Details, die sich mit den überlieferten biographischen Dokumenten
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aus Hesses Kindheit und Jugend decken, wie z. B. sein in Maulbronn geführtes großes Heft, in welches ich die Helden, die uns täglich aus Livius und dem Geschichtsunterricht bekannt wurden, mit Bleistift und Wasserfarben nach Art
der Moritatenbilder karikierte.
Dieses Heft ist erhalten und kann noch heute
in Maulbronn besichtigt werden. Wie Hesse selbst flieht auch der Ich-Erzähler aus dem Seminar. Dagegen verweist die Hermes-Büste, die Erwin ihm schenkt,
auf Hesses Tübinger Jahre, wo er sich für sein Zimmer in der Herrenbergerstra-
ße einen Gipsabguß der Hermes-Büste des Praxiteles anschaffte. Auch einen
Schulfreund Erwin hat es gegeben, doch nicht in Hesses Maulbronner Jahren,
sondern im Gymnasium von Cannstatt. Er hieß Erwin Moser und hat über
jene Jahre berichtet (vgl. Hermann Hesse in Augenzeugenberichten, Frankfurt
am Main, 1987 u. 1991). Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Dichter bei der Wahl des Namens an ihn gedacht hat.
Erzählungen wie
Der Novalis ,
Eine Rarität ,
Karl Eugen Eiselein
und
Casanovas Bekehrung
wenden sich literarischen Themen zu.
Der Nova-
lis , die Geschichte eines Büchersammlers, ist wohl um die Jahrhundertwen-
de in Basel entstanden und enthält gleichfalls autobiographische Elemente.
Im Nachwort zu einer Einzelausgabe dieses Titels schrieb Hesse im Frühjahr
1940:
Ich habe mich [im ersten Kapitel] dieser Erzählung als einen Biblio-
philen bezeichnet, der ich damals und noch lange nachher wirklich war und
habe mir damals . . . meine alten Tage als die eines einsamen Hagestolzen vorgestellt, dessen einzige Liebe und einziger Umgang die Bücher sind. Dies nun hat das Leben anders gefügt, und von den seltenen alten Büchern, von denen
in der Einleitung meiner Erzählung die Rede ist, etwa von den Italienern der Renaissance in Aldus-Drucken, ist heute nichts mehr in meinem Besitz; ja,
ich muß sogar bekennen, daß der zweibändige Novalis, den ich in Tübingen
erwarb und von dem meine Erzählung handelt, längst nicht mehr mir gehört
. . . mein Leben sieht nun ziemlich anders aus, als ich mir es damals phantasie-rend ausmalte. Wenn ich aber auch heute mich nicht mehr einen eigentlichen
Bibliophilen und in seine Bücher verliebten Sammler nennen darf, so kann ich doch meine jugendliche Bücherliebhaberei nicht belächeln, sie gehört unter
den Leidenschaften, die ich im Leben kennen lernte, nicht nur zu den harm-
losen und hübschen, sondern auch zu den fruchtbaren.
In sechs Kapiteln
wird der Weg, den diese NovalisAusgabe von 1837 bis zur Jahrhundertwende
genommen hat, anhand der Lebensgeschichte ihrer sechs Besitzer geschildert,
wobei vor allem der Käufer der Ausgabe, der sich
seit kurzem teils durch
Rezensionen,
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