Die Erzaehlungen 1900-1906
lebensgeschichtliche und verwandtschaftliche Bezüge, so z. B. zum Werdegang von Hesses Halbbruder Theo Isen(=Eisen)berg, der sich
zum Sänger berufen fühlte, doch schließlich als Apotheker resignieren mußte, erfährt man aus Siegfried Greiners Buch Hermann Hesse. Jugend in Calw,
Thorbecke, Sigmaringen 1981.
Die amüsante, zu Hesses Lebzeiten nie in Buchform veröffentlichte Erzähl-
ung
Casanovas Bekehrung
greift eine Episode aus Giacomo Casanovas Ge-
schichte meines Lebens (1774ff.) auf. Es ist seine Flucht vor Offizieren des württembergischen Herzogs Karl Eugen, die den venezianischen Abenteurer
1791 in Spielschulden verwickelt hatten. Hesses Erzählung hält sich ziem-
lich genau an die Schilderung aus dem sechsten Band von Casanovas Me-
moiren, worin die ihm vertrauten Stationen der Reise von Stuttgart über
Tübingen, Donaueschingen (= Fürstenberg), Schaffhausen nach Zürich und
Einsiedeln festgehalten werden. Manche der in den Lebenserinnerungen nur
angedeuteten Szenen, wie der Flirt des galanten Virtuosen der Gefühle mit den Wirtstöchtern in Fürstenberg, werden von Hesse mit humorvoller Detailfreude
ausgemalt. Sie tragen dazu bei, daß sich die Erzählung mit ihren psychologi-
schen Finessen nicht selten pikanter liest als das Original, zumal Hesse den Routinier des Liebesspiels,
dem zur Liebe, die kein Spiel mehr ist, etwas
fehlt , mit der Phantasie des Asketen ähnlich detailkundig zu portraitieren
vermag wie die barocke Lebensfreude des Fürstabtes von Kloster Einsiedeln,
dessen Fastenspeise aus delikaten Waldschnepfen und Lachsforellen besteht.
Dieser heitere, dem galanten Charmeur und gerissenen Lebenskünstler wie an-
gegossene Erzählton ist selten bei Hesse, da ihm seine eigenen Themen solch
kokette Ausdrucksformen nur ausnahmsweise erlauben.
Die frühesten der in Hesses Heimatstadt spielenden Erzählungen sind die
vier Kurzgeschichten
Der Kavalier auf dem Eise ,
Erlebnis in der Kna-
benzeit ,
Der Hausierer
und
Ein Knabenstreich . Sie wurden in den
Winterwochen vor Hesses erster Italienreise (25.3.–19.5.1901) in einem
Cal-
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wer Tagebuch
festgehalten, als er nach langer Abwesenheit wieder einmal
seine Eltern besuchte. Es sind Erinnerungen an Begebenheiten, die er vor Ort erlebt hatte, so z. B. sein erstes, damals zwölf Jahre zurückliegendes Liebesabenteuer, als er gleichfalls in einem Winter (1889/90) beim Eislaufen unter der Nikolausbrücke mit Emma Meier, dem für ihn schönsten Mädchen der
Stadt, zusammengestoßen war. Diese fast gleichaltrige Tochter eines Kupfer-
schmiedes hieß in Wirklichkeit Emma Widmaier und wurde 1891 mit Hesse
konfirmiert.
Die traurige Geschichte vom Schlosserbuben Mohrle,
Erlebnis in der Kna-
benzeit , greift noch ein halbes Jahr weiter zurück und schildert Hesses erste Begegnung mit dem Tod am Beispiel des kaum zehnjährigen Mitschülers Hermann Mohr, der im Juni 1899 an einer Hirnhautentzündung gestorben ist.
Eine ähnlich aufwühlende Erfahrung beschreibt die 1903/04 entstandene
und aller Wahrscheinlichkeit 1883, also noch in Hesses Vorschulzeit in Ba-
sel spielende Geschichte
Aus Kinderzeiten . Angesichts der frühlingshaften
Aufbruchstimmung in der Natur überkommt den IchErzähler die Erinnerung
an den Frühling eines Menschenlebens, dem es nicht vergönnt war, sich zu
entfalten. Eine spröde Zärtlichkeit durchzieht diese Erzählung von den Er-
lebnissen mit dem phantasievollen Spielkameraden Brosi. Autobiographische
Anhaltspunkte, außer der wirklichkeitsgetreuen Schilderung seiner Mutter, der Erwähnung seines jüngeren Bruders und des familieneigenen Papageis (der als
Geschenk eines Afrika-Missionars nicht schon in Basel, sondern erst ab 1891
in Calw zum kurzweiligen Mitglied der Hesse-Familie wurde) sind bisher noch
nicht nachweisbar. Die einzige bis heute auffindbare Äußerung des Verfassers dazu ist die Bemerkung, daß
Aus Kinderzeiten
ihm persönlich die wichtig-
ste Geschichte in Diesseits sei.
Von den grusligen Erfahrungen mit einem fahrenden Händler, der Seife,
Schuhwichse und Putzpulver feilbot, berichtet die Geschichte
Der Hausie-
rer . Es handelt sich dabei um ein Original aus dem benachbarten Bad Lie-
benzell, das zum Zeitpunkt, als Hesse die Erinnerung aufschrieb, noch lebte.
Auch in Unterm Rad ist von diesem Mann die Rede, der in Wirklichkeit Chri-
stian Friedrich Hartmann hieß und erst sechs Jahre später starb. Der Spitzna-me
Hotte Hotte
geht auf die Peitsche
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