Die Erzaehlungen 1900-1906
der sein eigenes Nest beschmutzt.
In merkwürdiger Parallele dazu le-
sen wir in Hesses 1907 entstandener Erzählung
In einer kleinen Stadt :
Er
wußte wohl, daß man seine Karikaturen für die Missetaten des Vogels ansah,
der sein eigenes Nest beschmutzt . . . daß seine unerbittliche und liebevolle Kenntnis des hiesigen Lebens gerade das war, was ihn von seinen Mitbürgern
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schied . . . doch wenn er den alten Tapezierer Linkenheil oder den jungen Friseur Wackenhut karikierte, so schnitt er mit jedem Strich weit mehr ins eigene Fleisch als in das des Gezeichneten.
Kein Wunder, daß es in den Pressereaktionen auf Hesses Erzählbände nicht
an Stimmen fehlt, welche seine
proletarischen
Protagonisten beanstandet
oder von der
skandalösen Harmlosigkeit
des Verfassers gesprochen haben.
In einem Brief vom Dezember 1908 an Helene Welti rechtfertigt sich Hesse:
Namentlich aber wollen sie [die Kritiker] meine Stoffe nicht gelten lassen
und meinen, ich solle von Herrenmenschen und Genies erzählen, nicht von
Gemüshändlern und Idioten. Da freut es mich, daß Sie mich gelten lassen und
es verstehen, daß in meiner scheinbaren Bescheidenheit auch Stolz liegt und
daß der Verzicht auf das Glänzende seine Gründe hat.
Durchschaut haben
das in der großspurigen Belle Époque des letzten deutschen Kaisers nur wenige, und Stimmen wie die von Carl Busse (über die Geschichten des Erzählbandes
Umwege 1912) waren an der Tagesordnung:
Warum mißbraucht ein Dich-
ter seine guten Gaben dazu, in aller Ausführlichkeit einen Menschen zu ent-
wickeln, dessen höchstes Ziel im Bartkratzen und Zöpfeflechten besteht? Man
fragt sich händeringend, was der Erzähler eigentlich an den dürftigen Phili-
stern findet, mit deren billigen Zielen er uns vertraut macht!
Aber es gab
auch andere Stimmen, wohl am treffendsten unter Hesses Zeitgenossen war
die von Max HerrmannNeiße. In der Berliner Wochenschrift
Die Litera-
rische Welt
schrieb er am 5.5.1933 anläßlich der Sammlung Kleine Welt:
Die deutsche Kleinstadt der Vorkriegszeit wird hier von einem gleicher-
weise zärtlichen wie wahrheitsstrengen Kenner gemalt, als der krause, un-
terschiedliche, nicht ganz ungefährliche, im Grunde doch fruchtbare Gottes-
Tiergarten, der sie damals war. Mit ihren Käuzen und kleinen Abenteurern,
soliden und wurmstichigen Geschöpfen, geachteten und zweifelhaften Existen-
zen, mit Schreibern, Handlungsgehilfen, Missionsanwärtern, Friseuren, Pfar-
rerstöchtern und Gerichtsvollzieherwitwen, Vereinsausflügen, Schützenfesten
und Schmierentheater . . . mit Griff in die Portokasse, Entgleisung und Selbstmord. Auch mit aller gegenseitigen Belauerung, Verlästerung, mit Bosheit,
Klatschsucht, säuerlicher Selbstgerechtigkeit und grausamem Unverständnis
. . . Menschen, Eigengewächse leben hier noch mit ungehetzter, ausführlicher Selbständigkeit ihr unverwechselbares, wesentliches Einzelschicksal. Das kann harmonisch mit dem subalternen Alltagsglück einer Verlobung enden, aber
auch im Gefängnis . . . auch mit dem Verlust des seelischen Gleichgewichtes
und völliger Verzweiflung am Sinn des Daseins. Denn die Himmel und Höllen
dieser kleinen Welt sind nicht weniger hoch und tief als die Abgründe an-
spruchsvollerer Zonen. Und die Tragödien und Komödien des Lebens haben
allenthalben ihre dunkle Glut, ihr vielfältiges Funkeln, ihre immerwährende
Bedeutung, ihre Würde und Wirklichkeit, wenn ein echter Dichter sie aufzu-
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spüren und zu gestalten weiß.
Die Erzählungen 1900–1906
Dieser erste Band deckt sich, was die Zeitspanne betrifft, aus der die Ge-
schichten stammen, mit Hesses frühester Erzählsammlung Diesseits, die frei-
lich nur eine Auswahl von Arbeiten aus den Jahren 1903 bis 1906 enthielt.
Diesseits,
Meiner lieben Frau Mia gewidmet , enthielt die Texte
Aus Kin-
derzeiten ,
Die Marmorsäge ,
Heumond ,
Der Lateinschüler
und
Ei-
ne Fußreise im Herbst . Doch war die 1907 erschienene Sammlung kaum halb
so umfangreich wie der vorliegende Band.
Die erste vollendete Erzählung Hermann Hesses ist aller Wahrscheinlich-
keit nach
Erwin . Sie ist uns in einer undatierten Handschrift und einer
Schreibmaschinen-Transkription von Ninon Hesse überliefert, der Druckvorla-
ge für eine Einzelausgabe, die 1965 in der Reihe der Oltener Liebhaberdrucke in einer Auflage von 760 Exemplaren erschien. In ihrem kurzen Nachwort
schreibt die Herausgeberin:
Das Manuskript der Erzählung
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