Die Erzaehlungen 1900-1906
den
Gerbersau Erzählungen, sondern bereits in Un-
term Rad, später in der Landstreichergeschichte Knulp, in Demian und dem
für Das Glasperlenspiel vorgesehenen
Schwäbischen Lebenslauf
ein Bild
seiner Vaterstadt überliefert, dessen topographische Anschaulichkeit ebenso
besticht wie die psychologische. Was dort an
Märchenduft von Heimat , an
Lokalkolorit und unverwechselbar schwäbischem Aroma eingefangen ist, von
der lichtlosen Winkelwelt der Falkengasse mit ihren feuchten Fluren, schad-
haften Dachrinnen, geflickten Fenstern und Türen, den Hinterhöfen mit ihren
Scheunen, Pferdefuhrwerken, Mansarden, Speichern, Flaschenzügen, Kellern
und Mostpressen, den Lohgruben der Gerber, den Stellfallen der Flößer bis hin zu den Stuben der Kleinstadtnoblesse, den Missions- und Mäßigkeitsvereinen
der pietistischen Stundenbrüder oder dem Frauenzimmer-Liederkranz Froh-
sinn , das alles wird mit derselben Hingabe und Anschaulichkeit überliefert
wie die durch solche Verhältnisse geprägte Zoologie der Einwohner und ihrer
Gewerbe. Da gibt es noch Seiler und Sattler, Steinhauer und Scherenschleifer, Seifensieder, Korb- und Hutmacher, Küfer, Flaschner und Fuhrleute, Brun-nenmacher, Taglöhner und Winkelreiniger. Sie alle, ob sie nun Joseph Gieben-
rath, Andreas Sauberle, Hans Dierlamm, Friedrich Trefz, Karl Hürlin, Stefan
Finkenbein, Karl Schlotterbeck oder Präzeptor Brüstlein heißen, sind dort in ihrer Eigenart verewigt. Und ihre in diesen Geschichten mehr oder weniger ab-gewandelten Namen kann man noch heute bei einem Gang über den Calwer
Friedhof wiederfinden.
Hesse wußte um die Vergänglichkeit, den fortschreitenden Verfall und die
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Unwiederbringlichkeit dieser
kleinen Welt
vor der Jahrhundertwende, und
er hat nicht geruht, bis sie so komplett und lebensnah wie möglich festgehalten war. Noch im Alter von mehr als achtzig Jahren schrieb er an seine Calwer
Cousine Fanny Schiler:
Das Wiederauftauchen einer versunkenen Kindheits-
erinnerung schätze ich höher als das Ausgraben von sechs Römerlagern.
Den-
noch hat seine Art der Überlieferung nichts Nostalgisches. Keine heile (weil vergangene) Welt wird darin verklärt, noch weniger werden die Verhältnisse
simplifiziert zur Beförderung einer politischen Tendenz. Diese ist zwar immanent, aber so unaufdringlich, daß es überflüssig ist, sein Diktum zu bemühen: Ich bin immer für die Unterdrückten gewesen, gegen die Unterdrücker , um
die Wahl seiner Stoffe zu charakterisieren. Eine Welt von Handwerkern, Lehr-
lingen, Fabrikarbeitern, Verkäufern, Dienstmägden, Fuhrleuten, Hausierern,
Asylinsassen, Schiffbrüchigen, Exzentrikern und Ausrangierten wird geschil-
dert, weil er sich als ihresgleichen fühlte, wahre Prachtexemplare von
Pro-
letariern , jedoch in naturalistischem Wildwuchs:
Ich habe zum Leben der
Kleinen und Anspruchslosen , schrieb Hesse 1912 in einem Brief,
von Kind
auf ein halb humoristisches, halb neidisches Verhältnis, das mich immer wie-
der locken wird . . . ein Lehrbub, der seinen ersten Sonntagsrausch erlebt,
und ein Ladenmädel, das sich verliebt, sind mir, offen gestanden, eigentlich ganz ebenso interessant wie ein Held oder Künstler oder Politiker oder Faust, denn sie leben nicht auf den Gipfeln seltener Ausnahmeexistenzen, sondern
atmen die Luft aller und stehen allen Dingen näher, auf denen das natürliche menschliche Leben ruht und aus denen wir in schlechten Zeiten den Trost
der Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit schöpfen . . . so habe ich zu dem Kreis
der Bescheidenen, Umfriedeten, in enge feste Verhältnisse Beschränkten eine
sehnsüchtige Liebe behalten . . . oft scheint mir, es gäbe überhaupt nur Ne-
benfiguren, den Faust und Hamlet inbegriffen . . . wie ja wir Ungläubigen auch die Unsterblichkeit nicht mehr in der Tasche tragen und sie doch verehren und an ihr teilzuhaben meinen, indem wir sie überindividuell sehen.
Auch ohne
ideologische Absicht sind diese Erzählungen gesellschaftskritisch. Das zeigen die Reaktionen der Calwer Zeitgenossen, die kaum weniger gereizt waren als z.
B. die der Bürger Lübecks auf das Personal von Thomas Manns Buddenbrooks:
Wenn der Verfasser der Buddenbrooks , schrieb Friedrich Mann 1912 in ei-
ner Lübecker Zeitung,
in karikierender Weise seine allernächsten Verwandten
in den Schmutz zieht und deren Lebensschicksale eklatant preisgibt, so wird
jeder rechtdenkende Mensch finden, daß dieses verwerflich ist. Ein trauriger Vogel,
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