Die Erzaehlungen 1900-1906
komischen
Grimassen. Erst in den letzten Stunden – es war Vormittag geworden – begann
er einzusehen, daß er sterben müsse. Der Arzt kam und erbot sich, zu bleiben, obwohl er nichts mehr für den Sterbenden tun könne. Ich bat ihn, zu gehen.
Dann hielt ich noch fast drei Stunden lang seine harte, braune Hand, die
ich vor Jahren mehrmals beim Rudern bewundert hatte, einmal bei einem der
bösen ligurischen Stürme, wo Ogilvie mitten in der Gefahr ein kleines, drolliges genueser Ulklied gesungen hatte. Wir sprachen wenig mehr. Aber wir sahen
einander in die Augen und dachten an die vielen Fahrten und Wanderungen,
die wir gemeinsam gemacht hatten, zwei ruhelose, heimatlose Menschen. Und
als er zum letzten Male sprach, waren es die Worte:
Sie sind ein guter Kerl. Wenn Sie gern meinen Schlitten haben wollen und
die Schlittschuhe, als Andenken – – –
Und als ich ihn beruhigen wollte, fuhr er fort:
Lassen Sie, Kamerad. Jetzt
bin ich noch Herr Ogilvie und schenke Ihnen meinen Schlitten. Nachher werde
ich ein Präteritum sein.
(1902)
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Eine Rarität
Vor einigen Jahrzehnten schrieb ein junger deutscher Dichter sein erstes Büchlein. Es war ein süßes, leises, unüberlegtes Gestammel von blassen Liebesreimen, ohne Form und auch ohne viel Sinn. Wer es las, der fühlte nur ein
schüchternes Strömen zärtlicher Frühlingslüfte und sah schemenhaft hinter
knospenden Gebüschen ein junges Mädchen lustwandeln. Sie war blond, zart
und weiß gekleidet, und sie lustwandelte gegen Abend im lichten Frühlings-
walde, – mehr bekam man nicht über sie zu hören.
Dem Dichter schien dieses genug zu sein, und er begann, da er nicht ohne
Mittel war, unerschrocken den alten, tragikomischen Kampf um die Öffentlich-
keit. Sechs berühmte und mehrere kleinere Verleger, einer nach dem andern,
sandten dem schmerzlich wartenden Jüngling sein sauber geschriebenes Ma-
nuskript höflich ablehnend zurück. Ihre sehr kurz gefaßten Briefe sind uns
erhalten und weichen im Stil nicht wesentlich von den bei ähnlichen Anlässen den heutigen Verlegern geläufigen Antworten ab; jedoch sind sie sämtlich von Hand geschrieben und ersichtlich nicht einem im voraus hergestellten Vorrat
entnommen.
Durch diese Ablehnungen gereizt und ermüdet, ließ der Dichter seine Verse
nun auf eigene Kosten in vierhundert Exemplaren drucken. Das kleine Buch
umfaßt neununddreißig Seiten in französischem Duodez und wurde in ein star-
kes, rotbraunes, auf der Rückseite rauheres Papier geheftet. Dreißig Exemplare schenkte der Autor an seine Freunde. Zweihundert Exemplare gab er einem
Buchhändler zum Vertrieb, und diese zweihundert Exemplare gingen bald dar-
auf bei einem großen Magazinbrand zugrunde. Den Rest der Auflage, hundert-
siebzig Exemplare, behielt der Dichter bei sich, und man weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Das Werkchen war totgeboren, und der Dichter verzichtete, vermutlich vorwiegend aus Erwägungen ökonomischer Art, einstweilen
völlig auf weitere poetische Versuche.
Etwa sieben Jahre später aber kam er zufällig einmal dahinter, wie man
zügige Lustspiele macht. Er legte sich eifrig darauf, hatte Glück und liefer-te von da an jährlich seine Komödie, prompt und zuverlässig wie ein guter
Fabrikant. Die Theater waren voll, die Schaufenster zeigten Buchausgaben
der Stücke, Bühnenaufnahmen und Porträts des Verfassers. Dieser war nun
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berühmt, verzichtete aber auf eine Neuausgabe seiner Jugendgedichte, ver-
mutlich weil er sich ihrer nun schämte. Er starb in der Blüte der Mannesjahre, und als nach seinem Tode eine kurze, seinem literarischen Nachlaß entnom-mene Autobiographie herauskam, wurde sie begierig gelesen. Aus dieser Auto-
biographie aber erfuhr die Welt nun erst von dem Dasein jener verschollenen
Jugendpublikation.
Seither sind jene zahlreichen Lustspiele aus der Mode gekommen und wer-
den nicht mehr gegeben. Die Buchausgaben findet man massenhaft und zu
jedem Preise, meist als Konvolute, in den Antiquariaten. Jenes kleine Erst-
lingsbändchen aber, von welchem vielleicht – ja sogar wahrscheinlich – nur
noch die dreißig seinerzeit vom Autor verschenkten Exemplare vorhanden sind, ist jetzt eine Seltenheit ersten Ranges, die von Sammlern hoch bezahlt und
unermüdlich gesucht wird. Es figuriert täglich in den Desideratenlisten; nur viermal tauchte es im Antiquariatshandel auf und entfachte jedesmal unter den Liebhabern eine hitzige Depeschenschlacht. Denn einmal
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