Die Erzaehlungen 1900-1906
bekümmerter Miene anstarrte, als hätte er dessen Klagen
verstanden.
Ich hatte unterdessen die mit Bleistift und Kohle an die Wand gezeichneten
Köpfe und Scherzbilder betrachtet. Unter diesen fiel mir nun plötzlich ein bril-lant gezeichneter, höchst grotesker Männerkopf auf. Ich trat näher und sah ihn mir genauer an. Eine Mischung von Stumpfsinn und Schlauheit, Gutmütigkeit
und Lasterhaftigkeit lag auf den flott hingestrichenen Zügen des Kopfes, die verkniffenen Augen unter der starken Stirn konnten ebensowohl Schelmerei
wie Trübsinn ausdrücken, die feste Unterlippe war von einer Holzpfeife links herabgezogen und ließ ein paar robuste Stockzähne sehen, deren auffallendes
Hervorgrinsen der ganzen Zeichnung Charakter und Eigenart gab. Ich fragte
den Wirt, wer das gezeichnet habe.
Nicht wahr , antwortete er,
ein schönes Stück! Wer es gemacht hat? Nun,
der Herr Costa, Sie kennen ihn doch? Der berühmte Herr Costa.
Ich erinnerte
mich, daß ein Maler dieses Namens allerdings in Florenz große Beliebtheit
genoß.
Und schauen Sie, Herr , fuhr der Wirt fort,
da hinten haben Sie die
ganze Figur. Sie stellt einen meiner ältesten Gäste vor.
Die Zeichnung, vor
die er mich führte, zeigte wirklich den Inhaber jenes Kopfes in ganzer Figur. Er stand auf kurzen, schinkenartigen Beinchen, in weiter Hose, in deren Taschen die Hände staken. Der Kopf war derselbe, die hölzerne Pfeife zog auch hier die Unterlippe schief, dazu trug er hier einen Hut, der mit grandioser Nonchalance auf dem mächtigen Schädel saß. Der Dresdener war zu mir getreten und lobte
die lebendige, offenbar nur leicht karikierende Zeichnung; schließlich kam auch der Kunsthistoriker, dem die sonderbare Figur ein lautes Gelächter entlockte.
In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür. Wir beachteten den Eintre-
tenden nicht, der Wirt aber stürzte ihm entgegen und zerrte ihn am Arm
zu uns her.
Ecco, Signori, l’originale!
rief er mehrmals, während er bald
auf die Zeichnung, bald auf den Gast, den er noch immer am Arm festhielt,
deutete. Wirklich erkannten wir in ihm sofort das Original des auffallenden
Porträts, das uns nun der Wirt mit überschwenglicher Höflichkeit vorstellte.
Herr Ercole Aglietti, mein alter Freund – und hier deutsche Gäste, gelehrte
und vornehme Herren.
Während er weiterschwatzte, schüttelten wir einan-
der die Hände und baten den Ankömmling an unsern Tisch. Dort schenkte
ich ihm ein Glas Chianti ein. Er dankte und trank langsam und kostend.
Unser Freund Wirt führt keinen schlechten Wein , sagte er dann schmun-
zelnd,
aber seinen besten hat er euch nicht vorgesetzt.
Der Wirt beteuerte,
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ein besserer Wein als der, den wir tränken, sei in der ganzen Toskana nicht
aufzutreiben. Herr Aglietti lachte, kniff die schlauen Äuglein zusammen und
flüsterte dem Freund etwas ins Ohr. Darauf verschwand derselbe und kehrte
mit einer staubigen Flasche zurück.
Diesen Jahrgang, meine Herren, verkaufe ich an gewöhnlichen Tagen nicht.
Sie müssen Herrn Aglietti dafür danken, daß er mich heute überredet hat, eine Flasche davon herauszugeben. Ich selbst, bei der Madonna, wage es kaum, am
Feste des Täufers Giovanni ein Gläschen davon zu trinken.
(In der Folge
machte er
mir zuliebe
diese Ausnahme jeden Abend.)
Unsere halbleere Flasche wurde zurückgenommen und wir ließen uns den
wirklich vorzüglichen
uralten
Chianti kräftig schmecken. Dabei entlock-
ten wir Aglietti allerlei Geständnisse. Wir erfuhren, daß er sechzig Jahre alt und von Geburt Pistojese sei, daß er früher wie eine Nachtigall gesungen ha-be und daß er noch heute eine Schwäche für guten Wein und schöne Frauen
habe. Er war in allem das Urbild des alten, behäbigen Toskaners, der mit
einem gelegentlich recht losen Maul eine rührende Gutmütigkeit und mit ei-
nem hochmütigen Lokalpatriotismus die zutraulichste Liebenswürdigkeit ge-
gen Fremde, die ihm schmeicheln, verbindet. Auf unsere Bitte begann er denn
auch bald, aus seinem Leben zu erzählen, eine Geschichte um die andere, flie-
ßend und gewandt, wie ein Novellist von Beruf. Eine davon schrieb ich nachher auf – hier ist sie:
Wie ihr wißt, findet jedes Jahr am Ostersamstag die große Feierlichkeit des
scoppio del carro statt, wobei auf dem Domplatz und in allen daranstoßenden
Straßen sich teils aus Florenz, teils aus Fiesole, Settignano, Prato und der ganzen Umgebung viele Tausende fromme und neugierige Zuschauer versammeln.
Ich
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