Die Erzaehlungen 1900-1906
sagte Berta und als sie dann zur
Tür ging, wurde sie von niemand mehr zurückgehalten und ging unbegleitet
die Treppe hinunter. Hans aber bat mein armes Kusinchen um Verzeihung.
Er werde noch heute fortgehen, sie möge ihn vergessen, er sei ihrer nicht wert gewesen und dergleichen. Und er war weggegangen.
Als Berta mir das erzählt hatte, wollte ich irgend etwas Tröstendes antwor-
ten. Aber ehe ich ein Wort herausbrachte, hatte sie sich über den halbgedeckten Tisch geworfen und wurde von einem unheimlichen Schluchzen geschüttelt.
Sie litt keine Berührung und kein Wort, ich konnte nur daneben stehen und
zuwarten, bis sie wieder zu sich kam.
Geh, geh doch! sagte sie endlich und ich ging.
Als Hans zum Abendessen noch nicht zurück war und auch auf die Nacht
nicht heimkam, war ich nicht sehr erstaunt. Vermutlich war er abgereist. Zwar war sein kleiner Koffer noch da, doch würde er schon darum schreiben. Sehr
nobel war diese Flucht nicht, aber durchaus nicht unbegreiflich. Schlimm war nur das, daß ich jetzt genötigt war, dem Onkel die leidigen Affären mitzuteilen.
Es gab ein gewaltiges Unwetter, und ich zog mich sehr früh auf meine Bude
zurück.
Am andern Morgen weckten mich Gespräch und Geräusch vor dem Haus. Es
war kaum fünf Uhr vorbei. Dann wurde die Torglocke gezogen. Ich schlüpfte
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in die Hosen und ging hinaus.
Auf ein paar Fichtenästen lag Hans Amstein in seinem grauen, wollenen Fe-
rienrock. Ein Waldschütz und drei Holzarbeiter hatten ihn gebracht. Natürlich waren auch schon ein paar Zuschauer da.
Weiter? Nein, mein Bester. Die Geschichte ist aus. Heutzutage sind ja Stu-
dentenselbstmorde keine Raritäten mehr, aber damals hatte man Respekt vor
Leben und Tod, und man hat von meinem Hans noch lange gesprochen. Und
auch ich habe der leichtsinnigen Salome bis heute nicht verziehen.
Na, sie hat wohl ein gutes Teil abgebüßt. Damals nahm sie es nicht schwer,
aber es kam auch für sie eine Zeit, wo sie das Leben ernst nehmen mußte.
Sie hat keinen leichten Weg gehabt, sie ist auch nicht alt geworden. Das wäre noch eine Geschichte! Aber nicht für heute. Wollen wir noch eine Bouteille
anbrechen?
(1903)
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Der Erzähler
In einem hochgelegenen Kloster im toskanischen Apennin, dessen Gast er war,
saß am Fenster seiner wohnlichen Stube ein greiser geistlicher Herr. Draußen glühte die Frühsommersonne auf den Mauern, auf dem schmalen, festungsarti-gen Hof, den steinernen Treppen und dem steilen, gepflasterten Fahrweg, der
vom grünen Tal heiß und mühsam bergan zum Kloster führte. Weiter hinaus
lagen grüne, fruchtbare Täler, in deren Gärten Oliven, Mais, Obst und Re-
ben gediehen, lichte kleine Weiler mit hellen Mauern und schlanken Türmen,
dahinter die hohen, kahlen, rötlichen Berge, da und dort mit mauerumschlos-
senen Meierhöfen und kleinen weißen Landhäusern besetzt.
Auf dem breiten Gesimse hatte der alte Herr ein kleines Buch vor sich
liegen. Es war in ein Stück Pergamentmanuskript gebunden, dessen Zinnober-
initialen kräftig leuchteten. Er hatte darin gelesen und strich nun spielend mit der weißen Hand über das Büchlein, nachdenklich lächelnd und mit leisem
Kopfschütteln. Das Bändchen war nicht etwa der Klosterbibliothek entnom-
men, hätte dorthin auch nicht gepaßt; denn es enthielt weder Gebete noch
Meditationen noch die Vitae Patrum, sondern eine Sammlung von Novellen.
Es war ein Novellino in italienischer Sprache, erst kürzlich erschienen, und auf seinen schön gedruckten Blättern stand allerlei Feines und Grobes, zarte Ritter- und Freundschaftshistorien neben durchtriebenen Schelmenstücklein
und saftigen Hahnreigeschichten.
Trotz seinem milden Aussehen und trotz seinen höheren kirchlichen Würden
hatte Herr Piero keine Ursache, an diesen weltlich derben Geschichten und
Schwänken Anstoß zu nehmen. Er hatte selber ein flottes Stück Welt gesehen
und genossen, und er war selber ein Verfasser von zahlreichen Novellen, in
denen die Heikelkeit der Stoffe mit der Delikatesse der Darstellung wetteiferte.
So gut er es in jungen Jahren verstanden hatte, hübschen Frauen den Hof
zu machen und verbotene Fenster zu erklimmen, so gut und bündig hatte
er später gelernt, seine und fremde Abenteuer zu erzählen. Obwohl er nie
ein Buch veröffentlicht hatte, kannte man ihn und seine Geschichten durch
ganz Italien. Er liebte eine feinere Art der Darbietung: er ließ seine Opuscula, jedes kleine Stück für sich, zierlich
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