Die Erzaehlungen 1900-1906
Welt,
vom Fenster oder Reisewagen aus gesehen, zu einem Zeitvertreib wurde, wo-
bei die mannigfaltigen Beschäftigungen und Umtriebe der Menschen ihn als
überlegenen Zuschauer zum Lächeln brachten. Denn er gönnte jedem das,
was einer besaß und galt, hatte auch gute Gründe zu glauben, daß vor Got-
tes Augen ein Kirchenfürst wenig mehr als irgendein armer Knecht oder ein
Bauernkind bedeute. Und während er, seit kurzem erst der Stadt entronnen,
sein Auge an der grünen Freiheit weidete, kehrte sein beweglicher Geist nach mancherlei Flügen heim in die fröhlichen Gefilde der Jugendzeit, als sähe er sie im Bilde der lichten Landschaft zu behaglicher Altersrückschau vor sich
ausgebreitet. Mit Nachfreude erinnerte er sich an manchen Tag der Lust, an
manche fröhliche Jagd, da er noch keine Röcke trug, an heiße rasche Ritte auf sonnigen Straßen, an Nächte voll Gesang und Geplauder und Bechergeläut, an
Donna Maria die Stolze, an Marietta die Müllerin und an die Herbstabende,
da er die blonde Giuglietta in Prato besuchte.
Niedersitzend behielt er den rotbraunen Kranz der hohen Berge im Blick,
als verweile dort in der Ferne sichtbar noch ein Glanz und Duft von damals,
als brenne dort eine lang untergegangene Sonne noch fort. Sein Gedächtnis
kehrte in die Zeit zurück, da er kein Knabe mehr und doch noch kein Jüngling war. Dies allein hatte er unrettbar verloren; das war das einzige, was sich nie im Leben wiederholt hatte und was auch die Erinnerung nicht mehr völlig
zu beschwören mächtig war jenes frühlingshafte, sehnsüchtige Werdegefühl.
Wie hatte er da nach Wissen gehungert, nach einer sicheren Kunde von der
Welt und vom Mannesleben, vom Wesen der Frau und der Liebe! Und wie
war er reich und unbewußt glücklich in jenem schmerzlich dürstenden Sehnen
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gewesen! Was er später sah und genoß, war schön, war süß; aber schöner und
süßer und seliger war jenes phantastische Träumen und Ahnen und Sehnen
gewesen.
Ein Heimweh dort hinüber beschlich den alten Herrn. Nur eine von den
Stunden noch einmal zu haben, da er tastend vor dem Vorhang des Lebens und
der Liebe stand, noch unwissend, was er dahinter fände und ob es zu wünschen oder zu fürchten sei! Noch einmal errötend die Gespräche der älteren Freunde zu belauschen und beim Gruß jeder Frau, von deren Liebesleben man irgend
etwas wußte oder ahnte, bis ins Herz hinein zu zittern!
Piero war nicht der Mann, um Erinnerungen zu trauern und sein Wohlsein
einer Jagd nach Träumen zu opfern. Mit einer plötzlichen Grimasse begann
er leise die Melodie einer alten lustigen Canzone durch die Zähne zu pfeifen.
Dann griff er von neuem nach dem Novellino und fand seine Freude dar-
an, in dem farbenreichen Dichtergarten zu lustwandeln, wo es von prächtigen
Kostümen glänzte, während die Becken der Springbrunnen vom Gekreisch
badender Mädchen widerhallten und in den Gebüschen das Gekose verliebter
Paare zu hören war. Da und dort nickte er einem guten Wortspiel erken-
nend und befriedigt zu, da und dort schien ihm eine Pointe gelungen, ein
Kraftwort gut angebracht, ein kleiner lasziver Nebensatz geschickt und rei-
zend durch scheinbares Verstecken ins Licht gerückt; je und je auch dachte er mit korrigierender Gebärde: das hätte ich anders gemacht. Manchen Satz las
er halblaut, den Tonfall ausprobend. Heiterkeit überflog sein kluges Gesicht und entzündete kleine fröhliche Feuer in seinen Augen.
Wie es aber geschehen kann, daß ungewollt ein Teil unserer Seele, während
wir dies oder jenes treiben, durch entlegene Gebiete irrt und bei Vorstellungen verweilt, die mehr als Phantasien und weniger als Erinnerungen sind, so
war ein Teil seiner Gedanken, ohne daß er recht darum wußte, in jener fernen Vorfrühlingszeit seiner Jugend geblieben und flatterte unsicher um ihre ruhen-den Geheimnisse, wie die Abendfalter um ein erleuchtetes und geschlossenes
Fenster schwirren.
Und als nach einer Stunde das lustige Buch von neuem weggeschoben auf
dem Stuhle lag, waren diese verirrten Gedanken noch nicht zurückgekehrt,
und um sie heimzurufen, ging er ihnen so weit in die Ferne nach, daß es ihn
gelüstete, dort nochmals eine Weile zu rasten. Mit spielender Hand ergriff
er ein daliegendes Streifchen Papier, nahm vom Schreibtisch einen Kiel und
begann feine Linien zu kritzeln. Eine lange schmale Frauengestalt erwuchs
auf dem Papier, mit stiller Freude streichelte die weiße weiche Priesterhand liebevoll an
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