Die Erzaehlungen 1900-1906
Falten und Säumen; nur das Gesicht war und blieb eine blöde
Maske, dazu reichte seine Fertigkeit nicht aus. Während er kopfschüttelnd
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die starren Linien des Mundes und der Augen statt lebendiger nur schwärzer
und steifer werden sah, veränderte das Tageslicht sich mehr und mehr, und
endlich aufblickend, sah Herr Piero die Berge rot umleuchtet. Er lehnte sich ins Fenster, sah im goldenen Staubgeflimmer der Straße Vieh und Wagen,
Bauern und Weiber heimkehren, hörte in nahen Dörfern anhebendes Geläut
und, als dies verklungen war, ganz fern und fein noch ein tiefes Summen
tönen, aus irgendeiner entfernteren Stadt, vielleicht aus Florenz. Im Tal stand ein rosenfarbener Abendduft, und mit dem Herankommen der Dämmerung
wurden die Höhen plötzlich sammetblau und der Himmel opalfarbig. Herr
Piero nickte zu den dunkelnden Bergen hinüber, erwog zugleich, daß es nun
Zeit zum Abendessen sei, und verfügte sich mit bequemen Schritten treppauf
in das Speisezimmer des Abtes.
Sich nähernd, hörte er ungewohnte frohe Töne, die auf Gäste deuteten, und
bei seinem Eintritt erhoben sich zwei Fremde aus ihren Sesseln. Der Abt stand gleichfalls auf.
Du kommst spät, Piero , sagte er.
Ihr Herren, da ist der Erwartete. Ich
bitte dich, Piero – hier ist Herr Luigi Giustiniani aus Venedig und sein Vetter, der junge Herr Giambattista. Die Herrschaften kommen von Rom und Florenz
und hätten mein Bergnest schwerlich gefunden, wenn nicht deine berühmte
Gegenwart, die man ihnen in Florenz verriet, sie hergezogen hätte.
Wirklich?
lachte Piero.
Vielleicht ist es doch anders, und die Her-
ren gehorchten einfach der Stimme ihres Blutes, die sie an keinem Kloster
vorübergehen lassen sollte.
Warum denn?
fragte der Abt verwundert, und Luigi lachte.
Herr Piero scheint allwissend , sagte er fröhlich,
daß er uns so unvermu-
tet mit alten Familiengeschichten bewirtet.
Nun erzählte er dem Abt in Kürze die merkwürdige Geschichte seines Ur-
ahnen. Dieser sah sich nämlich als ganz junger, noch nicht lange eingeklei-
deter Mönch eines Tages als der einzige männliche Träger seines Namens
übriggeblieben, da der gesamte männliche Stamm der Giustiniani vor By-
zanz zugrunde gegangen war. Damit die Familie nicht absterbe, entband ihn
der Papst seines Gelübdes und vermählte ihn mit der Tochter des Dogen. Er
bekam mit dieser drei Söhne; aber kaum waren diese erwachsen und an Frau-
en aus den mächtigsten Häusern verheiratet, so ging der Vater in sein Kloster zurück, wo er in strengster Buße lebte.
Piero hatte sich an seinen Ehrenplatz gesetzt und erwiderte die Artigkeiten, die den weichsprechenden Venezianern wie Öl vom Munde liefen, auf seine
vornehme Weise. Er war ein wenig müde, doch ließ er davon nichts merken,
und während dem Fisch das Geflügel und dem lichten herben Bologneser ein
kraftvoller alter Chianti folgte, ward er zusehends lebhafter.
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Als die Schüsseln abgetragen waren und neben den Bechern nur noch der Wein-
krug und eine Schale mit Früchten auf dem Tische stand, war es im Zimmer
beinahe schon dunkel. Durch die schmalen, schwer gemauerten Fensterbogen
blaute der Nachthimmel herein, und auch als die Leuchter angezündet waren,
blieb sein Schimmer noch lange sichtbar. Unter den Fenstern ward aus der
Taltiefe je und je ein Sommernachtgeräusch hörbar, bald ein fernes Hundege-
bell, bald von der Mühle ein Gelächter, Gesang oder Lautenschlagen, bald auf der Straße der langsame Doppelschritt eines Liebespaares. In ruhigen Wogen
floß die laue, nach den Feldern duftende Luft herein, kleines Nachtgeflügel mit grauen, silberstaubigen Sammetflügeln kreiste irrend um die Kerzen, an denen das Wachs zu dicken Bärten niedertropfte.
Am Tische gingen Scherzreden, Wortspiele und Anekdoten um. Das Ge-
spräch, das mit politischen Neuigkeiten und den neuesten vatikanischen Wit-
zen begonnen, dann eine Wendung zum Literarischen genommen hatte, blieb
schließlich bei Liebesfragen und Liebeserlebnissen hängen, wobei die jungen
Gäste ein Beispiel ums andere anführten, zu denen der Abt schweigend nickte, Piero aber Anmerkungen und Überblicke gab, deren Wesen ebenso sachkun-dig gründlich wie ihre Form präzise war. Doch legte er mehr Gewicht auf
vergnügliche Abwechslung als auf strenge Konsequenz, und kaum hatte er die
Behauptung gewagt, ein kundiger Mann könne auch in der dicksten Finsternis
an untrüglichen Merkmalen erkennen, ob eine Frau blond oder dunkel
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