Die Erzaehlungen 1900-1906
sei, so
schien er sich zu widersprechen mit dem nächsten Axiom, daß nämlich bei
Weibern und in der Liebe drei gerade und hell dunkel sei.
Die Venezianer brannten darauf, ihm irgendein Histörchen zu entlocken,
und wandten alle Künste an, ihn unvermerkt zum Erzählen zu verführen. Der
Alte blieb aber ruhig und beschränkte sich darauf, Theorien und Sentenzen ins Gespräch zu werfen, wodurch er den Gästen spielend eine Geschichte um die
andere entlockte, deren jede er belustigt dem Schatz eines unheimlich reichen Gedächtnisses einreihte. Er hörte dabei auch manchen ihm längst wohlbekannten Stoff in neuer persönlicher Verkleidung vortragen, ohne den Plagiator zu entlarven; er war alt und klug genug, um zu wissen, daß gute alte Geschichten niemals schöner und lustiger sind, als wenn ein Neuling sie selber erlebt zu haben glaubt.
Am Ende aber wurde der junge Giambattista ungeduldig. Er nahm einen
Schluck von dem dunkelroten Wein, stieß den Becher auf den Tisch und wandte
sich an den Alten.
Hochwürdiger Herr , rief er,
Ihr wißt so gut wie ich, daß
wir alle vor Begierde sterben, eine Erzählung aus Eurem Munde zu hören. Ihr
habt uns nun verlockt, daß wir Euch mindestens schon ein Dutzend Geschich-
ten erzählt haben, immer in der Hoffnung, Ihr würdet eine bessere auftischen, wäre es auch nur, um uns zu beschämen. Tut uns die Liebe und erfreut uns
mit irgendeiner alten oder neuen Novelle!
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Piero verzehrte bedächtig einen in Wein getauchten Feigenschnitz und über-
legte, während er daran schlürfte.
Ihr vergeßt, werter Herr, daß ich kein
leichtsinniger Novellist mehr bin, sondern ein alter Mann, dem nur noch ein
Epigramm für seinen Grabstein zu verfassen übrigbleibt.
Mit Verlaub , fiel Giambattista ein,
Ihr habt noch vor Augenblicken
Worte über die Liebe gesagt, auf die jeder Jüngling stolz sein dürfte.
Auch Luigi fing an zu bitten. Piero lächelte sonderbar. Er hatte beschlossen, nachzugeben, jedoch eine Geschichte zu erzählen, von der er erwarten durfte, sie würde die jungen Männer enttäuschen. Ruhig schob er den dreiflammigen
Leuchter weiter von sich, besann sich ein wenig, wartete, bis alle still wurden und ihre Becher gefüllt hatten, und begann zu sprechen.
Die Kerzen warfen eckige Schatten auf die breite Tafel, auf der einzelne
braune und grüne Feigen und gelbe Limonen verstreut lagen. Durch die hohen
Fensterbogen atmete, kühler werdend, die Nacht, die indes den lichten Himmel dunkel gemacht und mit Gestirnen bedeckt hatte. Die drei Zuhörenden hatten
sich in die tiefen Sessel zurückgesetzt und blickten vor sich nieder auf den roten Steinboden, auf dem der Schatten des Tafeltuches sich leise wallend bewegte.
In der Mühle und weit im Tal war alles verstummt, und es war so still, daß
man in weiter Ferne auf der harten Straße ein müdes Pferd im Schritt gehen
hörte – so langsam, daß man nicht unterscheiden konnte, ob es näherkomme
oder sich entferne.
Piero erzählte:
Wir haben diesen Abend mehrmals über das Küssen gesprochen und dar-
über gestritten, welche Art des Kusses die beglückendste sei. Es ist die Sache der Jugend, das zu beantworten; wir alten Leute sind über das Versuchen und
Erproben hinaus und können über dergleichen wichtige Dinge nur noch unsere
trübgewordene Erinnerung befragen. Aus meiner bescheidenen Erinnerung will
ich euch also die Geschichte zweier Küsse erzählen, von welchen mir jeder
zugleich als der süßeste und bitterste in meinem Leben erschienen ist.
Als ich zwischen sechzehn und siebzehn alt war, besaß mein Vater noch ein
Landhaus auf der Bologneser Seite des Apennin, in dem ich den größten Teil
meiner Knabenjahre verlebt habe, vor allem jene Zeit zwischen Knabentum
und Jünglingtum, die mir heute – möget ihr es verstehen oder nicht – als die schönste im ganzen Leben erscheint. Längst hätte ich jenes Haus einmal wieder aufgesucht oder es als Ruhesitz für mich erworben, wäre es nicht durch eine
unerfreuliche Erbschaft an einen meiner Vettern gefallen, mit dem ich beinah schon von Kind auf mich schlecht vertrug und der übrigens eine Hauptrolle in meiner Geschichte spielt.
Es war ein schöner, nicht allzu heißer Sommer, und mein Vater bewohnte
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mit mir und mit ebenjenem Vetter, den er zu Gast geladen hatte, das kleine
Landhaus. Meine Mutter lebte damals schon lange nicht mehr. Der Vater
war noch in guten Jahren, ein wohlbeschaffener Edelmann, der uns Jungen
im Reiten und
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