Die Erzaehlungen 1900-1906
allerdings ein Martyrium, es sei aber Ehre, die schwere Last
tragen zu dürfen, und was heute keine Anerkennung finde, werde vielleicht in einer späteren Epoche erkannt und zum gebührenden Ruhm erhoben werden.
Er ermahnte den Jünger, treu zu bleiben und niemals das alte ars longa,
vita brevis zu vergessen. Der zweite Dichter schrieb einen ganz gewöhnlichen Briefstil. Er danke schön für die herrlichen Worte und sende die hübschen
Verse anbei zurück; übrigens scheine Herr Eiselein, wenn er nicht irre, in der angenehmen Lage eines Privatmannes zu sein, der zu seinem Vergnügen dichte
und das Elend derer nicht kenne, die davon leben müssen. In diesem Falle
möchte er Herrn Eiselein, dessen Brief und Gedichte einen so feinsinnigen
Kunstfreund verrieten, um ein Darlehen von zweihundert Mark ersuchen, da
er zur Zeit sehr in der Klemme sei. Man könne sich das Leben eines Dichters
nicht traurig genug vorstellen; von dem von Herrn Eiselein so enthusiastisch verehrten Buche
Das All. Eine Trilogie
zum Beispiel habe er in den drei
Jahren seit seinem Erscheinen an Tantiemen den baren Betrag von 24 Mark
75 Pfg. eingenommen, und wenn er nicht nebenher die Sportberichte für ein
Tageblatt besorgen würde, ware er längst verhungert.
Der enttäuschte Karl Eugen legte beide Briefe zuunterst in die Schublade.
Oft hatte er schon früher darüber mitgeschimpft, daß das deutsche Volk seine 140
Dichter darben lasse, doch blickte er in diesen Jammer jetzt zum ersten Mal so nah und klar hinein. Er hatte in seinem Leben noch wenig anderes getan, als
Gedichte gemacht – woher hätte er wissen sollen, daß die meisten Leute, auch wenn sie wirklich Bücher lasen, Wichtigeres kannten und lesen wollten als die Träume und schwankenden Stimmungen von ein paar Schwärmern? Freilich,
er glaubte das Leben zu kennen; er wußte es nicht, daß er abseits desselben
in einer unfruchtbaren Wüste lebte und daß drüben, im wirklichen Leben,
jeder Tag Wunder gebar, neben denen die raffiniertesten Symbolistenkünste
harmlos und farblos waren.
Ohne daß er viel tat außer lesen, flossen die Tage weg. Der Sommer wurde
braun und neigte zur Welke, Septemberregen wuschen den Staub vom Grünen;
es gab schon farbige Blätter, kühle Nächte und neblige Morgenfrühen. Und
mit dem fallenden Laub des großen Ahorns wehte ein Brief zur Türe des
Ladens herein, lag mit der übrigen Post auf der Tischdecke, ward von Herrn
Eiselein mit ins Kontor hineingenommen, gelesen, wieder gelesen, mit einem
hoffnungslosen Seufzer weggelegt und schließlich vom Herrn selber zur Mama
hinaufgebracht. Der Brief kam von einem Kaufmann in der Universitätsstadt
und brachte die Enthüllung, daß Karl Eugen daselbst noch viele Schulden
habe, von denen der Vater keine Ahnung gehabt hatte.
Der Sohn war morgens im Laden gewesen, um seinen Tabaksbeutel zu füllen.
Er hatte den Brief dort liegen sehen und erkannt, und war stark in Versuchung gekommen, ihn wegzunehmen. Aber schließlich mußte es doch einmal an den
Tag kommen und da hatte es ihm besser geschienen, den Zusammenbruch
jetzt zu erleben, als noch länger die Angst in sich herumzutragen. Seither saß er in seiner Stube, von Augenblick zu Augenblick das Eintreten der Eltern
erwartend und fürchtend, und jede Minute kam ihm so lang wie ein Winter-
semester vor. In dieser Stunde fühlte, erlebte und litt er mehr, als in allen seinen Gedichten stand, und seine freie, heitere Künstlermoral schmolz zu einem wehmütigen und gequälten Trotz zusammen. Es kam aber niemand. Es
wurde Zeit zum Mittagessen und nach einigem Zögern faßte er Mut und ging
ins Eßzimmer hinüber. Dort fand er nur seinen Vater, der schon an der Suppe
saß und nicht aufschaute. Die Suppe wurde abgetragen, das Rindfleisch und
das Gemüse wurde gebracht und schweigend verzehrt, und Karl Eugen verging
fast vor Angst und Spannung.
Wo ist denn die Mutter?
fragte er schließlich beklommen.
Verreist.
Wohin denn?
Wirst’s dann schon hören.
Er fragte nicht weiter. Aber er sah im Geist seine kleine, schneidige Mut-
ter durch die Gassen der Universitätsstadt laufen und seine Versäumnisse,
Schandtaten und Schulden aufspüren, eins ums andere. Sie ging in seine ehe-
141
malige Wohnung, sie ging zu den Kaufleuten und Gastwirten, zum Buchhänd-
ler und zum Juden Werzburger, und ach, sie ging auch zu den Professoren,
deren Ausspruch sein Schicksal vollends besiegelte und ihm den Hals abdrehte.
Der arme Versmacher
Weitere Kostenlose Bücher