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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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mußte ich doch
    lachen, sooft ich daran dachte.
    Das war aber nur der Anfang. Es fielen mir zu gleicher Zeit tausend Erleb-
    nisse ein, alle aus dem Sommer und Herbst, wo Brosi mein Kamerad gewesen
    war, und alle hatte ich in den paar Monaten, seit er nimmer kam, so gut wie
    vergessen. Nun drangen sie von allen Seiten her, wie Vögel, wenn man im
    Winter Körner wirft, alle zugleich, ein ganzes Gewölk.
    Es fiel mir der glänzende Herbsttag wieder ein, an dem des Dachtelbauers
    Turmfalk aus der Remise durchgegangen war. Der beschnittene Flügel war
    ihm gewachsen, das messingene Fußkettlein hatte er durchgerieben und den
    engen finsteren Schuppen verlassen. Jetzt saß er dem Haus gegenüber ruhig
    auf einem Apfelbaum, und wohl ein Dutzend Leute stand auf der Straße da-
    vor, schaute hinauf und redete und machte Vorschläge. Da war uns Buben
    sonderbar beklommen zumute, dem Brosi und mir, wie wir mit allen ande-
    ren Leuten dastanden und den Vogel anschauten, der still im Baume saß und
    scharf und kühn herabäugte.
    Der kommt nicht wieder , rief einer. Aber der
    Knecht Gottlob sagte:
    Fliegen, wann er noch könnt, dann wär er schon lang
    über Berg und Tal.
    Der Falk probierte, ohne den Ast mit den Krallen los-
    zulassen, mehrmals seine großen Flügel; wir waren schrecklich aufgeregt, und ich wußte selber nicht; was mich mehr freuen würde, wenn man ihn finge oder
    wenn er davonkäme. Schließlich wurde vom Gottlob eine Leiter angelegt, der
    Dachtelbauer stieg selber hinauf und streckte die Hand nach seinem Falken
    aus. Daließ der Vogel den Ast fahren und fing an, stark mit den Flügeln zu flattern. Da schlug uns Knaben das Herz so laut, daß wir kaum atmen konnten;
    wir starrten bezaubert auf den schönen, flügelschlagenden Vogel, und dann
    kam der herrliche Augenblick, daß der Falke ein paar große Stöße tat, und
    wie er sah, daß er noch fliegen konnte, stieg er langsam und stolz in großen Kreisen höher und höher in die Luft, bis er so klein wie eine Feldlerche war und still im flimmernden Himmel verschwand. Wir aber, als die Leute schon
    lang verlaufen waren, standen noch immer da, hatten die Köpfe nach oben
    gestreckt und suchten den ganzen Himmel ab, und da tat der Brosi plötzlich
    einen hohen Freudensatz in die Luft und schrie dem Vogel nach:
    Flieg du,
    flieg du, jetzt bist du wieder frei.
    Auch an den Karrenschuppen des Nachbars mußte ich denken. In dem hock-
    ten wir, wenn es so recht herunterregnete, im Halbdunkel beisammengekauert,
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    hörten dem Klingen und Tosen des Platzregens zu und betrachteten den Hof-
    boden, wo Bäche, Ströme und Seen entstanden und sich ergossen und durch-
    kreuzten und veränderten. Und einmal, als wir so hockten und lauschten, fing der Brosi an und sagte:
    Du, jetzt kommt die Sündflut, was machen wir jetzt?
    Also alle Dörfer sind schon ertrunken, das Wasser geht jetzt schon bis an den Wald.
    Da dachten wir uns alles aus, spähten im Hof umher, horchten auf
    den schüttenden Regen und vernahmen darin das Brausen ferner Wogen und
    Meeresströmungen. Ich sagte, wir müßten ein Floß aus vier oder fünf Balken
    machen, das würde uns zwei schon tragen. Da schrie mich der Brosi aber an:
    So, und dein Vater und die Mutter, und mein Vater und meine Mutter, und
    die Katz und dein Kleiner? Die nimmst nicht mit?
    Daran hatte ich in der
    Aufregung und Gefahr freilich nicht gedacht, und ich log zur Entschuldigung: Ja, ich hab mir gedacht, die seien alle schon untergegangen.
    Er aber wurde
    nachdenklich und traurig, weil er sich das deutlich vorstellte, und dann sagte er:
    Wir spielen jetzt was anderes.
    Und damals, als sein armer Rabe noch am Leben war und überall her-
    umhüpfte, hatten wir ihn einmal in unser Gartenhaus mitgenommen, wo er
    auf den Querbalken gesetzt wurde und hin und her lief, weil er nicht herunter-konnte. Ich streckte ihm den Zeigefinger hin und sagte im Spaß:
    Da, Jakob,
    beiß!
    Da hackte er mich in den Finger. Es tat nicht besonders weh, aber ich
    war zornig geworden und schlug nach ihm und wollte ihn strafen. Der Brosi
    packte mich aber um den Leib und hielt mich fest, bis der Vogel, der in der
    Angst vom Balken heruntergeflügelt war, sich hinausgerettet hatte.
    Laß mich
    los , schrie ich,
    er hat mich gebissen , und rang mit ihm.
    Du hast selber zu ihm gesagt: Jakob beiß!
    rief der Brosi und erklärte mir
    deutlich, der Vogel sei ganz in seinem Recht gewesen. Ich war ärgerlich über seine Schulmeisterei, sagte
    meinetwegen
    und

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