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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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und hohe
    Reiterstiefel.
    Von hier war es nur noch ein Schritt, ein willenloses Sichfallenlassen, und
    ich stand im Träumeland und konnte alles mit Augen sehen und mit Händen
    anfassen, was jetzt noch Erinnerung und Gedanke und Phantasie war.
    Ich schlief aber nicht ein, denn in diesem Augenblick floß durch das Schlüs-
    selloch der Kammertür, aus der Schlafstube der Eltern her, ein dünner, roter Lichtstrom zu mir herein, füllte die Dunkelheit mit einer schwachen zitternden Ahnung von Licht und malte auf die plötzlich matt aufschimmernde Tür des
    Kleiderkastens einen gelben, zackigen Fleck. Ich wußte, daß jetzt der Vater ins Bett ging. Sachte hörte ich ihn in Strümpfen herumlaufen, und gleich darauf
    vernahm ich auch seine gedämpfte tiefe Stimme. Er sprach noch ein wenig mit
    der Mutter.
    Schlafen die Kinder?
    hörte ich ihn fragen.
    Ja, schon lang , sagte die Mutter, und ich schämte mich, daß ich nun
    doch wach war. Dann war es eine Weile still, aber das Licht brannte fort. Die Zeit wurde mir lang, und der Schlummer wollte mir schon bis in die Augen
    steigen, da fing die Mutter noch einmal an.
    Hast auch nach dem Brosi gefragt?
    Ich hab ihn selber besucht , sagte der Vater.
    Am Abend bin ich dort
    gewesen. Der kann einem leid tun.
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    Geht’s denn so schlecht?
    Ganz schlecht. Du wirst sehen, wenn’s Frühjahr kommt, wird es ihn weg-
    nehmen. Er hat schon den Tod im Gesicht.
    Was denkst du , sagt die Mutter,
    soll ich den Buben einmal hinschicken?
    Es könnt vielleicht gut tun.
    Wie du willst , meinte der Vater,
    aber nötig ist’s nicht. Was versteht so
    ein klein Kind davon?
    Also gut Nacht.
    Ja, gut Nacht.
    Das Licht ging aus, die Luft hörte auf zu zittern, Boden und Kastentür
    waren wieder dunkel, und wenn ich die Augen zumachte, konnte ich wieder
    violette und dunkelrote Ringe mit einem gelben Rand wogen und wachsen
    sehen.
    Aber während die Eltern einschliefen und alles still war, arbeitete meine
    plötzlich erregte Seele mächtig in die Nacht hinein. Das halbverstandene Ge-
    spräch war in sie gefallen wie eine Frucht in den Teich, und nun liefen schnell-wachsende Kreise eilig und ängstlich über sie hinweg und machten sie vor
    banger Neugierde zittern.
    Der Brosi, von dem die Eltern gesprochen hatten, war fast aus meinem Ge-
    sichtskreis verloren gewesen, höchstens war er noch eine matte, beinahe schon verglühte Erinnerung. Nun rang er sich, dessen Namen ich kaum mehr gewußt
    hatte, langsam kämpfend empor und wurde wieder zu einem lebendigen Bild.
    Zuerst wußte ich nur, daß ich diesen Namen früher einmal oft gehört und
    selber gerufen habe. Dann fiel ein Herbsttag mir ein, an dem ich von jemand
    Äpfel geschenkt bekommen hatte. Da erinnerte ich mich, daß das Brosis Vater
    gewesen sei, und da wußte ich plötzlich alles wieder.
    Ich sah also einen hübschen Knaben, ein Jahr älter, aber nicht größer als ich, der hieß Brosi. Vielleicht vor einem Jahre war sein Vater unser Nachbar und
    der Bub mein Kamerad geworden; doch reichte mein Gedächtnis nimmer dahin
    zurück. Ich sah ihn wieder deutlich: er trug eine gestrickte blaue Wollkappe mit zwei merkwürdigen Hörnern, und er hatte immer Äpfel oder Schnitzbrot im
    Sack, und er hatte gewöhnlich einen Einfall und ein Spiel und einen Vorschlag parat, wenn es anfangen wollte, langweilig zu werden. Er trug eine Weste,
    auch werktags, worum ich ihn sehr beneidete, und früher hatte ich ihm fast
    gar keine Kraft zugetraut, aber da hieb er einmal den Schmiedsbarzle vom
    Dorf, der ihn wegen seiner Hörnerkappe verhöhnte (und die Kappe war von
    seiner Mutter gestrickt), jämmerlich durch, und dann hatte ich eine Zeitlang Angst vor ihm. Er besaß einen zahmen Raben, der hatte aber im Herbst zu
    viel junge Kartoffeln ins Futter bekommen und war gestorben, und wir hatten
    ihn begraben. Der Sarg war eine Schachtel, aber sie war zu klein, der Deckel ging nicht mehr drüber, und ich hielt eine Grabrede wie ein Pfarrer, und
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    als der Brosi dabei anfing zu weinen, mußte mein kleiner Bruder lachen; da
    schlug ihn der Brosi, da schlug ich ihn wieder, der Kleine heulte, und wir
    liefen auseinander, und nachher kam Brosis Mutter zu uns herüber und sagte,
    es täte ihm leid, und wenn wir morgen nachmittag zu ihr kommen wollten,
    so gäbe es Kaffee und Hefekranz, er sei schon im Ofen. Und bei dem Kaffee
    erzählte der Brosi uns eine Geschichte, die fing mittendrin immer wieder von vorne an, und obwohl ich die Geschichte nie behalten konnte,

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