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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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köstlich, einmal wieder sich dort hinüberzuschwingenund die klare 151
    Morgenluft der ersten f Jugend zu atmen und noch einmal, für Augenblicke,
    die Welt so zu sehen, wie sie aus Gottes Händen kam und wie wir alle sie in
    Kinderzeiten gesehen haben, da in uns selber das Wunder der Kraft und der
    Schönheit sich entfaltete.
    Da stiegen die Bäume so freudig und trotzig in die Lüfte, da sproß im Garten Narziß und Hyazinth so glanzvoll schön; und die Menschen, die wir noch so
    wenig kannten, begegneten uns zart und gütig, weil sie auf unserer glatten
    Stirn noch den Hauch des Göttlichen fühlten, von dem wir nichts wußten und
    das uns ungewollt und ungewußt im Drang des Wachsens abhanden kam. Was
    war ich für ein wilder und ungebändigter Bub, wieviel Sorgen hat der Vater
    von klein auf um mich gehabt und wieviel Angst und Seufzen die Mutter! – und doch lag auch auf meiner Stirne Gottes Glanz, und was ich ansah, war schön
    und lebendig, und in meinen Gedanken und Träumen, auch wenn sie gar nicht
    frommer Art waren, gingen Engel und Wunder und Märchen geschwisterlich
    aus und ein.
    Mir ist aus Kinderzeiten her mit dem Geruch des frischgepflügten Ackerlan-
    des und mit dem keimenden Grün der Wälder eine Erinnerung verknüpft, die
    mich in jedem Frühling heimsucht und mich nötigt, jene halbvergessene und
    unbegriffene Zeit für Stunden wieder zu leben. Auch jetzt denke ich daran und will versuchen, wenn es möglich ist, davon zu erzählen.
    In unserer Schlafkammer waren die Läden zu, und ich lag im Dunkel halbwach,
    hörte meinen kleinen Bruder neben mir in festen, gleichen Zügen atmen und
    wunderte mich wieder darüber, daß ich bei geschlossenen Augen statt des
    schwarzen Dunkels lauter Farben sah, violette und trübdunkelrote Kreise, die beständig weiter wurden und in die Finsternis zerflossen und beständig von
    innen her quellend sich erneuerten, jeder von einem dünnen gelben Streifen
    umrändert. Auch horchte ich auf den Wind, der von den Bergen her in lauen,
    lässigen Stößen kam und weich in den großen Pappeln wühlte und sich zuzeiten schwer gegen das ächzende Dach lehnte. Es tat mir wieder leid, daß Kinder
    nachts nicht aufbleiben und hinausgehen oder wenigstens am Fenster sein
    dürfen, und ich dachte an eine Nacht, in der die Mutter vergessen hatte, die Läden zu schließen.
    Da war ich mitten in der Nacht aufgewacht und leise aufgestanden und
    mit Zagen ans Fenster gegangen, und vor dem Fenster war es seltsam hell,
    gar nicht schwarz und todesfinster, wie ich’s mir vorgestellt hatte. Es sah alles dumpf und verwischt und traurig aus, große Wolken stöhnten über den ganzen
    Himmel und die bläulich-schwarzen Berge schienen mitzufluten, als hätten sie alle Angst und strebten davon, um einem nahenden Unglück zu entrinnen. Die
    Pappeln schliefen und sahen ganz matt aus wie etwas Totes oder Erloschenes,
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    auf dem Hof aber stand wie sonst die Bank und der Brunnentrog und der
    junge Kastanienbaum, auch sie ein wenig müd und trüb. Ich wußte nicht, ob
    es kurz oder lang war, daß ich im Fenster saß und in die bleiche verwandelte Welt hinüberschaute; da fing in der Nähe ein Tier zu klagen an, ängstlich
    und weinerlich. Es konnte ein Hund oder auch ein Schaf oder Kalb sein, das
    erwacht war und im Dunkeln Angst verspürte. Sie faßte auch mich, und ich
    floh in meine Kammer und in mein Bett zurück, ungewiß, ob ich weinen sollte
    oder nicht. Aber ehe ich dazu kam, war ich eingeschlafen.
    Das alles lag jetzt wieder rätselhaft und lauernd draußen, hinter den ver-
    schlossenen Läden, und es wäre so schön und gefährlich gewesen, wieder hin-
    auszusehen. Ich stellte mir die trüben Bäume wieder vor, das müde, ungewisse Licht, den verstummten Hof, die samt den Wolken fortfliehenden Berge, die
    fahlen Streifen am Himmel und die bleiche, undeutlich in die graue Weite ver-schimmernde Landstraße. Da schlich nun, in einen großen, schwarzen Mantel
    verhüllt, ein Dieb, oder ein Mörder, oder es war jemand verirrt und lief dort hin und her, von der Nacht geängstigt und von Tieren verfolgt. Es war vielleicht ein Knabe, so alt wie ich, der verlorengegangen oder fortgelaufen oder geraubt worden oder ohne Eltern war, und wenn er auch Mut hatte, so konnte
    doch der nächste Nachtgeist ihn umbringen oder der Wolf ihn holen. Vielleicht nahmen ihn auch die Räuber mit in den Wald, und er wurde selber ein Räuber,
    bekam ein Schwert oder eine zweiläufige Pistole, einen großen Hut

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