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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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ausgesprochen. »Kein gutes Zeichen, ein Bürgerlicher im Wasser. Die brauchen immer einen Schuldigen, sieht nie gut aus für den Finder.« Gaspard zuckte mit den Schultern. »Ich stand im Wasser, ich sehe nicht, wie ich ihn hätte hineinstoßen sollen.« Es war offensichtlich, alle nickten mit dem Kopf. »Ja, aber die , die kümmern sich einen Dreck um deine Logik, ob du da warst oder anderswo, das ist denen einerlei. Wenn wir den hier liegen lassen« – er zeigte auf die Leiche –, »handeln wir uns Ärger ein.« Ringsum hob ein entrüstetes Murmeln an. »Wir müssen ihn zum nächsten Polizeiposten schaffen«, beschloss Lucas. Der Vorarbeiter – ein Holländer, wie Gaspard erfahren hatte – bahnte sich einen Weg durch die Menge, warf einen Blick auf den Kadaver und befahl dann den Männern, wieder an ihre Arbeit zu gehen. »Schafft mir das vom Hals«, sagte er mit schleppendem Akzent zu Gaspard und Lucas und drehte sich weg. Ein neuer Zug Hölzer kam angeschwommen, und die Männer tauchten wieder ab ins Wasser. Lucas ging und ließ Gaspard mit der Leiche allein. Auch die Schaulustigen kehrten, bereits gelangweilt, zu ihren Beschäftigungen zurück.
    Gaspard erforschte das leblose Gesicht, die Augen, die nichts mehr ausdrückten und den Himmel nicht reflektierten. Sie schienen das Licht nur noch aufzusaugen durch ihre aufgeblähten Netzhäute. Eine Fliege setzte sich in den Mundwinkel des Toten, kletterte zwischen die Zähne. Gaspard konnte den Blick nicht von dem wächsernen Gesicht lösen, er stellte sich staunend die Abläufe vor, die im selben Augenblick in dieser leeren Hülle vor sich gingen. Leer, aber leer wovon? Denn ihre Materie war noch intakt, auch wenn sich der Verwesungsprozess bereits in Gang gesetzt hatte; das Gedärm trug ja schon immer, seit Geburt, die Anlage zur Verwesung in sich. Was also hatte sich aus dem Fluss verflüchtigt, das immateriell und für dieses Leben gleichzeitig notwendig gewesen war? Die Seele, wusste Gaspard, aber was war das? Etwas Undenkbares, eine Chemie, die ihn von diesem Haufen Fleisch unterschied? Bald würde eine Generation von Würmern diese dekadente Frucht anfressen. Fette, kreideweiße Würmer, erst einer, dann immer mehr. Viele Tausend, ein stilles, verbissenes Heer. Gaspard kam eine Erinnerung hoch, während er reglos vor dem Körper stand und nachdachte.
    Quimper, rot: Einer Frau aus der Stadt war der Bauch dick geblieben nach der Geburt ihres Sohnes. Vierzig Jahre lang hielt sie mit der Hand ihren Unterleib fest, der nicht abschwellen wollte. Man glaubte, dass das Kind, das schwächlich war, ihre Eingeweide ausgeleiert hatte. Vierzig Jahre lang arbeitete sie, erzog ihre Kinder, hielt das Haus in Ordnung. Dann kamen die Schmerzen im Bauch, wurden stechend, zwangen sie, sich zu krümmen, auf allen vieren zu gehen. Man verschrieb ihr Medikamente, die ein wenig Erleichterung brachten, doch nach drei Tagen Röcheln und Verrenkungen war sie tot. Man sprach von einem Wegsinken der inneren Organe, etwas, das, so schrecklich es sei, verbreitet sei bei denen, die nicht die Chance hätten, jung zu sterben. Der Arzt, plötzlich neugierig geworden, beschloss, eine Autopsie vorzunehmen. Und da entdeckte er, in einen verwüsteten Uterus geschmiegt, in das Gewebe eingekrustet, einen kleinen verstümmelten Körper, ein kalkgraues Fossil. Den Körper des Zwillings – den Zwilling dieses Sohnes, der vierzig Jahre zuvor geboren worden war –, gestorben in utero . Die Ursache für ihren Tod war also viel aufregender als das gemeine Krankheitsbild, das man dafür gehalten hatte. Niemand hatte ahnen können, wie nah man an der Wahrheit gewesen war, wenn man sich an den Straßenecken lustig machte über die Alte und ihre Elefantenschwangerschaft. Der Arzt war entzückt. Die Neugier war nicht immer ein böses Laster: Er würde einen Artikel in einer Zeitschrift veröffentlichen, die schon lange nichts mehr von ihm hatte wissen wollen. Gaspards Mutter hatte ihm diese Anekdote oft erzählt, als er noch klein gewesen war, und dabei gelacht und ihre faulen Zähne gezeigt.
    Genauso , dachte Gaspard, tragen wir das Instrument unseres baldigen Todes in uns drin, wo es irgendwo verkrochen, still und mit unendlicher Geduld wartet . Lucas kehrte zurück. An der einen Hand zog er eine Barke, die am Ufer entlangtrieb, in der anderen hielt er ein durchgescheuertes Seil, das am Bug festgebunden war und das er nun anfing, an die Füße der Leiche zu knüpfen. Gaspard schaute ihm zu, fragte sich

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