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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nach dem Zweck dieses Unterfangens. »So«, sagte Lucas und zog so stark zu, dass der Kadaver erbebte, »ziehen ist einfacher als tragen.« Dann rollte er den Körper ins Wasser, wo er an der Oberfläche zu treiben begann, aber nicht mehr so leicht wie zuvor. Hatte er vielleicht einen Seufzer ausgestoßen, als er in der Sonne lag? Lucas stieg ein und holte die Ruder aus dem abgestandenen Wasser. Gaspard zögerte erst, denn watete er über die Leiche und kletterte dazu. Bald fuhren sie über den Fluss, an den Wäscherinnen vorbei. Der Körper beschwerte das Boot, verlangsamte die Fahrt. Von den Uferböschungen zeigte man mit ausgestreckten Armen auf den Trauerzug. Gaspard, zur Leiche gewandt, sah zu, wie sie eine Spur ins grüne Wasser bahnte, die Arme angehoben wie eine Tänzerin, die den Entrechat ausführt.
    So verkehrte also die Bourgeoisie mit dem Elend; in einem graziösen, makabren Tanz, mitten in der Seine. Die Damen fielen ihm wieder ein, die er am Tag nach seiner Ankunft in Paris gesehen und an die er nie mehr gedacht hatte. Lucas ruderte, das Gesicht im grellen Licht, die Muskeln gespannt. »Woran denkst du?«, fragte Gaspard. Lucas zog eine Grimasse, wie oft, wenn er eine Frage unangebracht fand. »An gar nichts. Woran soll ich schon denken?« Es gab also nichts zu denken. Es war ganz natürlich, eine Leiche über den Fluss zu schleppen wie Charon, der Fährmann des Styx. Charon, Sohn der Finsternis und der Nacht, Dreckgesicht unter einer schwarzen Kappe, der unbestechliche Alte, wählte am Flussufer die Seelen aus, die ihre Überfahrt bezahlen konnten, und ließ die anderen ein Jahrhundert lang umherirren. Ein Jahrhundert lang an den Ufern der Seine , dachte Gaspard. Sein Herz fing wild an zu klopfen. Früher wurde ein Obolus in den Mund der Toten gelegt, um Charon zu bezahlen. Gaspard tastete seine Taschen ab, fand nur einen matten, unentzifferbaren Sol. Er beugte sich vor und zog das Seil zu sich heran, legte die Leiche an die Barkenseite und schaffte es nicht ohne Mühe, das Gebiss zu öffnen. Das Geldstück blieb auf einem weißen Speichelrest kleben. Der kalte Atem, der entwich, überdeckte jenen des Flusses und kündigte die Verwesung an. Lucas schaute wortlos zu. Er verstand nicht, was Gaspard tat, respektierte jedoch den Aberglauben. Gaspard erforschte die Leere, die er verspürte, während die Leiche abdriftete und wieder die Pose einer Tänzerin einnahm. Würde er hundert Jahre leben, wie die geplagten Seelen am Ufer des Flusses Acheron? Würde er immer an der Seine leben? Er erinnerte sich an eine verflogene Begeisterung, dachte mit Wehmut an eine entschwundene Ambition. Schon legte Lucas in der Nähe eines Gebäudes an, vor dem zwei Wachpolizisten im Schatten einer Weide dösten.
    »He!«, schrie er, als er vom Boot stieg. Der Kadaver war in einer dicken Schlammschicht stecken geblieben. Die Hitze reduzierte das Flussbett, legte den Torf frei. Die Polizeioffiziere richteten sich auf, die Hand am Mützenschirm, dann wurden sie auf die Leiche aufmerksam und näherten sich ihr im Laufschritt. Gaspard fiel die Ähnlichkeit ihrer besoffenen Gesichter auf, deren Poren klafften wie Krater, um den Alkohol besser ausschwitzen zu können. »Wir haben die da weiter unten gefunden«, erklärte Lucas, »und da dachten wir uns, wir bringen sie her.« Er hievte den Körper aufs Festland. Gaspard stieg aus der Barke. Argwöhnisch untersuchten die beiden Beamten die Leiche, befahlen ihnen, sie zum Wachposten zu bringen. Man legte den Toten an die Sonne, wo er sich zu verfärben begann und aufblühte wie eine Blume. »Wir werden euch ein paar Fragen zu stellen haben«, murmelte einer der beiden Säufer. »Schon klar, Monsieur«, stimmte Lucas zu, »viel können wir aber nicht sagen.«
    »Das überlass mal uns, Kleiner«, sagte der andere Beamte, »setzt euch.« Lucas und Gaspard ließen sich im Schatten der Weide auf einer Holzbank nieder. Die Beamten suchten etwa eine Stunde lang nach den richtigen Papieren, fanden dann, es wäre gut, sich zu vergewissern, ob der Mann auch wirklich tot sei. Die Leiche gab fade Gerüche von sich, furzte in der Sonne wie ein Sybarit, der sich bei einem Landausflug gemütlich im weichen Gras rekelt. Sie traten zurück und hielten die ungefähre Todeszeit fest. Das Verhör dauerte zwei Stunden, bis die Beamten von der Glaubwürdigkeit ihrer Worte überzeugt waren. Daraufhin ließen sie einen Karren und einen Träger bereitstellen. Als der Bourgeois endlich ins Leichenschauhaus

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