Die Erziehung - Roman
herbeigerufene Arzt diagnostizierte eine Überanstrengung, verordnete ihr, sich für einige Zeit aus Paris zu entfernen. Die frische Luft würde den Kreislauf anregen. Wieder flehte sie ihren Gemahl an, sie zu begleiten. Er, der nicht mehr aß, magerte zusehends ab. Nun ergriff sie verschärfte Maßnahmen, fiel zehnmal in Ohnmacht und auf die Knie, bat den Arzt, sie mit einem umsichtigen Gutachten zu unterstützen, da ihre Worte wenig fruchteten. Dies tat er, doch Monsieur de Nerval ließ sich nicht beirren, redete ihr zu, mit den Kindern zu verreisen. Am Tag vor der Abfahrt gab sie klein bei, und so machte sie sich am frühen Morgen schweren Herzens auf den Weg, ohne ihren Mann. Die normannische Luft wäre Madames Gesundheit förderlich gewesen, hätte sie nicht zwei Tage nach ihrer Ankunft eine ausgesprochen schlechte Nachricht erhalten: Monsieur war tot aufgefunden worden, mit aufgeschlitztem Bauch nach einem Schwertduell – an dieser Stelle des Berichts zuckte Billod zusammen, wusste nicht wohin mit seiner Waffe, die auf einmal so augenfällig war, dass man nur noch sie zu sehen schien. Eine ernsthafte Angelegenheit, hieß es, auch wenn die Identität des Siegers unbekannt blieb. Er hatte sich in aller Frühe davongemacht. Wieder in Paris, war Madame nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Um die Fortsetzung in Erfahrung zu bringen, müssen wir uns von ihrem Bericht abkehren und uns auf das stützen, was Madame d’Anglade oder Monsieur Fayard zu erzählen wussten: Sie glaubte ernsthaft zu sterben, als sie erfuhr, dass Monsieur de Nerval finanziell seit langem ruiniert war, sein Vermögen im Spiel verschleudert hatte und in ganz Paris in der Kreide stand, was sie als Einzige nicht wusste. Sie hätte wie gewöhnlich in Ohnmacht fallen können, fand jedoch mithilfe des Zorns ein probateres Mittel zur Darstellung ihrer Gefühle. Sie heulte wie eine Harpyie, ohrfeigte ihre beiden Töchter, zog sie an den Haaren durch sämtliche Räume, riss die Tapeten von den Wänden, warf Möbel aus dem Fenster, zertrümmerte die Porzellanservices, schleuderte das Silberzeug ins Feuer und blieb schließlich beinahe drei Tage lang nackt und sturzbetrunken in ihrem Bett liegen. Zwei Nächte brachten Rat genug, und so stand sie am dritten Morgen auf, frisch wie das blühende Leben. Die Witwe de Nerval schrieb das hübsche Haus und die mageren Ländereien in der Normandie zum Verkauf aus, und das Geld, das sie dafür bekam, reichte gerade, um die Schulden ihres Mannes zu begleichen. Dann mobilisierte sie, was ihr an Charme und Anziehungskraft geblieben war, um einen geeigneten Mann zu verführen. Aus sicherer Quelle wusste man, dass sie weniger als zwei Wochen nach dem Tod ihres Gemahls fand, was sie suchte. Jener Marquis unterhielt sie und ihre beiden Töchter anständig, und da er verheiratet war, hielt er nicht um ihre Hand an, sondern ließ ihr vollkommene Freiheit, solange er das genießen konnte, was ihr Fleisch noch an Verzückung zu bieten hatte. Von da an wurde Madame nicht mehr von den abscheulichen Ohnmachtsanfällen heimgesucht. Sie erstrahlte. Man nannte sie sonnig. Nie hatte man eine Frau gesehen, der die Trauer so gut stand. »Stellen Sie sich vor«, sagte sie unter Schluchzern, »man hat mich wissen lassen, dass sein Bauch von links nach rechts aufgeschlitzt war. Der Ärmste hielt seine Eingeweide in beiden Händen, als man ihn fand.« Dann stand sie mit einem Sprung auf. Ihr Blick wanderte über die Regale: »Mein Gott, die gefällt mir, die muss ich unbedingt anprobieren!«
Da war Monsieur Baudin, der sein Glück mit Textilien gemacht hatte. Aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Lebensgeschichten empfand Billod eine besondere Zuneigung für ihn. Dieser Kunde wünschte stets extravagante Perücken, die der Schwerkraft trotzten. Er zögerte im Übrigen nicht, in der Zurückgezogenheit des Ateliers auch die Damenkollektion anzuprobieren. Darum sorgte er dafür, stets vorab einen Termin zu vereinbaren, um sicher zu sein, von niemandem gestört zu werden. Wenn er kam, schloss Billod seine Werkstatt und parfümierte sich verschwenderisch. Monsieur Baudin war ein langgliedriger Mann mit rabenschwarzen Augen und ebensolchen Haaren. Er trug ein Monokel, liebte den Kontrast und war stets in Weiß, gelegentlich in einem gewagten Beige gekleidet. In dieser Aufmachung Paris zu durchqueren, ohne sich schmutzig zu machen, stellte eine wahre Herausforderung dar. Seine Kutsche trug ihn an jeden Ort der Stadt, auf Zehenspitzen sprang er vom
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