Die Erziehung - Roman
drückte zu. Die Straße um sie herum war verschwunden. Auf ihren Gesichtern zitterte der Lichtschein der Kerze. »Oh«, stellte Etienne nach einem Schweigen fest, »werden wie ich.« Gaspard hing an den Worten des Comte, mit ihm verbunden durch diesen Zeigefinger auf seinem Gesicht, wenige Zentimeter von seinen Lippen. Eine rasende Lust überkam ihn, den Finger zwischen die Zähne zu nehmen, ihn mit der Zunge zu berühren, den Handschuh mit seinem Speichel zu durchtränken, darunter vielleicht den Geschmack seiner Haut zu kosten. Diese Anwandlung erschreckte ihn, genauso wie die Ergebenheit, der er sich überließ, und das mit Vergnügen durchwachsene Leiden, das diese neue Facette Etiennes auslöste. Er wartete auf die weiteren Worte, heftete den Blick auf den Schlitz zwischen den Lippen des Grafen. Er fürchtete sich vor einem strafenden Satz, erhoffte sich Erleichterung. Mit wenigen Worten entfernte sich Etienne, stellte sich über ihn, um ihn zu mustern, zu bewerten, und Gaspard konnte nichts anderes als schweigen, warten, bis das Urteil gefällt war. »Das ist ein sehr, sehr langer Weg. Und kann man denn überhaupt ein anderer werden, mein Freund? Ich glaube nicht.« Sie betrachteten einander im Halbdunkel. Gaspard las eine Veränderung in den Gesichtszügen, die vertraut, aber nicht vertraut genug geworden waren, um unsichtbar zu sein. Irgendetwas in Etienne war anders, zu seinem Charisma gesellte sich Euphorie; eine dunkle Erregtheit belebte seine Haut. Dann kam das Mimikspiel zum Erliegen wie Wellen auf ruhigem Wasser. »Und doch, Gaspard, kann ich Ihnen helfen, es zu etwas zu bringen, wenn es das ist, was Sie wünschen. Sie träumen davon, bürgerlich oder sogar adelig zu sein? Sie wünschen sich mein Leben, den Luxus, die Salons, das Prestige und die Anerkennung? Nichts ist einfacher als das.« Bevor er die Zeit hatte zu verstehen, was er tat, fand sich Gaspard halb kniend im engen Zwischenraum der beiden Bänke wieder, ein Knie auf den Boden gesetzt und das andere gegen den Sitz gelehnt. Seine Hände umschlangen Etiennes Knie, der keinerlei Anstalten des Rückzugs machte, drückten seine Finger. »Helfen Sie mir, zu werden wie Sie … wie Sie«, flüsterte Gaspard wie eine Litanei. Die Szene hatte etwas von einem pathetischen Geständnis, doch Etienne schien sich zu amüsieren, denn er lächelte, ergriff den Arm des jungen Mannes und zwang ihn, sich wieder zu setzen. »Es ist natürlich unnötig hinzuzufügen, dass alles seinen Preis hat«, sagte er in vertraulichem Ton. Er richtete sich auf und klopfte als Zeichen für den Kutscher zweimal an die Wand.
Der Wagen setzte sich augenblicklich in Bewegung. »Wohin fahren wir?«, fragte Gaspard wieder. – »In die Basse Geôle«, antwortete Etienne. Der Lehrling war aufgewühlt. Wie hatte er sich nur zu einem solchen Verhalten erniedrigen lassen? Er war außer sich gewesen. Ohne jede Vorwarnung hatte er sich plötzlich vor Etienne niedergekniet. Dieser tat, als hätte er das Geschehene bereits vergessen. Er zeigte gelassen durch die Scheibe auf ein Gebäude, dessen Architektur er interessant fand. Wie konnte er ignorieren, was geschehen war? Keinen Anstoß daran nehmen? Gaspard verachtete sich für sein Verhalten. Und doch war es offensichtlich: Etienne hatte ihn getrieben, sein Verlangen, seine nichtswürdigen Absichten zu beichten, seine Gier nach dem Adel zu gestehen, aber auch nach ihm, als Mann. Er hatte ihn lächerlich gemacht, um ihn zum Reden zu bringen, ein schamloses Bekenntnis von sich zu geben. Gaspard warf sich vor, dass er sich hatte missbrauchen lassen. Etienne wusste um die Macht, die er zu haben begann, wusste, zu welchen Zielen Gaspard ihre Beziehung zu führen wünschte. Sollte damit die Tür zu sämtlichen Exzessen offen stehen? Würde sich Etienne nun unbekümmert über den kleinen Lehrling mokieren, an den Fäden dieser jämmerlichen Marionette ziehen? Es war nicht wiedergutzumachen. Das Gespenst der Szene, die sich eben zugetragen hatte, schwebte in der Wagenkabine. Obwohl Gaspard das Gesicht beharrlich zum Fenster drehte, ahnte er Etiennes Befriedigung. Und doch konnte er ihm nicht vorwerfen, diesen Gefühlsausbruch ausgelöst zu haben, durch den er sich derart entblößt hatte. Er hasste sich. Die Hitze brachte sein Gesicht zum Leuchten. Er spürte, dass sich ihre Beziehung durch seine Unbeherrschtheit veränderte, dass diese Wandlung von Etienne gewollt war und ihn zufrieden stellte. Gaspard war der Darsteller einer
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