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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Schmierenkomödie, die vom Grafen erdacht worden war. Die Vorstellung, so genau erforscht zu sein, dass es möglich war, sämtliche seiner Gesten und Gebärden vorauszusehen, lähmte den jungen Mann. Doch gleichzeitig verunsicherte ihn, wie köstlich das Gefühl war, durchschaut zu werden. Er gestand sich ein, wie gern er sämtlichen Stolz abgelegt hatte, wie erregend es war, sich Etienne auszuliefern, sich von ihm leiten zu lassen. Gaspard spürte die Erotik, die in diesem Darbieten lag. Als er merkte, dass sie schon seit einigen Minuten am Ufer der Seine entlangfuhren, erschauderte er. Seine Hände verspannten sich auf den Knien. Er schloss die Augen, holte tief Luft. Die Angst, die ihn packte, verdrängte ein wenig seine Verlegenheit. Sie fuhren über die Brücke Saint-Michel. Am selben Abend hatte Etienne seinen Widerstand gleich zweimal gebrochen: Er hatte ihn zu einem schamlosen Geständnis getrieben, und nun trat er sein Versprechen mit Füßen, nie mehr den Fluss sehen zu wollen. Gaspard schaute auf das vertraute Wasser, das im Licht des Mondes und der hie und dort an den Böschungen entzündeten Feuer zu erahnen war. Die Atmosphäre im Wagen wurde stickig. Er öffnete das Fenster. Sogleich vertrieb der Geruch der Seine, die mit Schlick und Schlamm angereichert war, das Engegefühl im Fahrzeug. Gaspard zog die Luft ein, merkte, dass er diesen Gestank, wenn auch abgemildert, während der Monate im Atelier ständig wahrgenommen hatte. Es war vorgekommen, dass er den Geruch gewittert hatte, stehen geblieben war, um ihn besser aufzunehmen, auf der Suche nach der Erinnerung, die er weckte, dann aber mit dem unbefriedigten Eindruck aufgegeben hatte, seine Herkunft nicht benennen zu können. Nun war es offensichtlich. Es war die Gischt des Flusses, vom Wind herbeigetragen, die ihn trotz seiner Verleugnung der Seine ununterbrochen verfolgt hatte. Der Fluss war unveränderlich, überlebte ihn. Nichts konnte seine Präsenz aus der Stadt verdrängen, nicht der unerschütterlichste Wille. Wie er sich Etienne ausgeliefert hatte, bot sich Gaspard der Seine an, erfasste sie mit seinem Blick. Sie überquerten die Ile de la Cité, dann den Pont au Change, und Gaspard kapitulierte. Da es keinen anderen Ausweg gab, unterwarf er sich Etiennes Einfluss wie jenem des Flusses oder von Paris selbst. Er dachte, es wäre vielleicht, wie er es am Tag zuvor geglaubt hatte, das Beste, das eine wie das andere zu benutzen, um sich entfalten zu können. Wahrscheinlich bedingte sein Aufstieg diese Aufgabe. »Ja, ich bin bereit«, murmelte Gaspard. »Sehr gut«, antwortete Etienne und zog einen Tabakbeutel aus seiner Weste hervor, »in diesem Fall rate ich Ihnen zu schnupfen, wir sind da.«
    Der Tabak brannte in den Nasenlöchern, und sein Aroma verdrängte den Geruch der Seine. Als sie aus dem Wagen gestiegen waren, schnieften sie und spuckten zu Boden. Vor ihnen erhob sich das Gefängnis Grand-Châtelet, eine Silhouette mit strengen Linien. Mehrere Türme ragten zwischen den Gebäuden heraus, da die Überwachung rund um die Ile und den Bau, in dem mit dem Gefängnis auch die Lokale der Polizei untergebracht waren, verstärkt worden war. Ein Gardist näherte sich, und der Graf streckte ihm ein wachsversiegeltes Schreiben entgegen. Der Offizier war groß, breitschultrig, sein Gesicht verschwand unter dem Geschwür eines Bartes. Er musterte Etienne, dann Gaspard, und faltete den Brief wieder zusammen. »Gehen Sie durch, meine Herren.« Auf der Treppe, die zur Basse Geôle hinunterführte, spärlich beleuchtet durch müde Fackeln, erklärte Etienne: »Ich habe ein paar Freunde bei der Wache, die mir Zugang zu solcherlei Zeitvertreib verschaffen. Das ist nicht viel, aber man muss seine Beziehungen zu pflegen wissen. Sie werden mir bald bestätigen, wie schade es wäre, auf solch ein hübsches Schauspiel verzichten zu müssen.« Schon hier war der Geruch zum Ersticken widerwärtig, doch der Tabak in den Nasenlöchern überdeckte den abscheulichen Beinhausgestank ein wenig. Er rief Gaspard die Fäulnis in Erinnerung, die Legrands Körper eines Sommerabends am Ufer der Seine verbreitet hatte, war aber stärker, so mächtig, dass er die Stirnhöhle erfasste, die Kehle verklebte. Die Treppe führte in einen Keller, in dem sie von einem trägen alten Mann empfangen wurden. Etienne unterhielt sich mit ihm, während Gaspard zögernd ein paar Schritte durch den länglichen Saal ging. Von den Wänden warfen Leuchter ihre tentakelartigen Schatten auf die

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