Die Erziehung - Roman
Bodenplatten. Die Flammen mühten sich ab, um nicht von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Gaspard fasste sich an die Nase. Es roch nach Gedärmen und Kot, nach einer unaufhaltbaren, höllischen Sintflut von Gerüchen. Etienne kam mit einer Fackel zu ihm, die er an die Wand stellte. Sie verstärkte die rötliche Beleuchtung des Raumes ein wenig. Ein verrostetes Gitter trennte die Leichenkammer in der Mitte der Länge nach ab. Dahinter reihten sich auf imposanten Steintischen die Leichen. Zu Statuen erstarrt gab keine von ihnen das Bild eines friedlichen Toten ab. Die Arme und Beine, wenn sie nicht fehlten oder vom Körper abgetrennt waren, krümmten sich geziert. Die Haut spannte sich weiß, blau oder grün über das Fleisch, klaffte auf zu triefenden Rissen. Auf den Gesichtern zeigten sich die unterschiedlichsten Ausdrücke. Bei einem Ertrunkenen war das Antlitz zu einem unförmigen Brei aufgedunsen. Ein Kind schlief für immer, den Mund über ein paar sprießenden Zähnen aufgesperrt. Von einer Frau, auf die man geschossen hatte, war nur noch das Profil erhalten, die durchsichtige Haut des Gesichts endete auf der linken Seite in einem Brei, der aus der offenen Schädelhöhle herausquoll. Man erahnte den Knochen, das sublime Gewölbe im Schädelinnern, rund wie eine Opferschale. Gaspard und Etienne schauten schweigend durch die Luke. Über jedem Toten hingen die Kleider, die seiner Identifizierung dienten, verhöhnten seine Nacktheit. Nur die Geschlechtsteile waren von schmutzigen Stoffen bedeckt. Noch immer reiften die Körper, entleerten sich ihrer Säfte, obwohl man ihre Öffnungen mit Watte verstopft hatte. Tagelang der Inquisition von Schaulustigen ausgesetzt, der kleinen Leute auf der Suche nach einem Vermissten, verbraucht durch die Blicke, gaben sie sich ihnen schließlich selbstlos hin, offenbarten ihre letzten Geheimnisse. Tagsüber wurde Wasser über sie geschüttet, um die von Totenflecken und Schuppen übersäten Schenkel zu reinigen. Nachts in der Stille des Beinhauses beschmutzten sie sich erneut. Die Körper, deren Verwesung fortgeschritten war, und die aufgeschwemmten Wasserleichen wurden mit Grobsalz bestreut. Bei manchen war der Mund voll von diesem eiweißfarbenen Kristall, der das Fleisch austrocknete, die Zunge einschrumpfen ließ. Das Salz drang in die Augen, in die Wunden, schien wie Gischt aus den Körpern zu schäumen. Gaspard spürte den salzigen Geschmack, als hätte er die Haut einer Leiche geleckt. Die Kohorte der Toten ließ sich in ihrer obszönen Wollust anstarren, während sie sich unaufhörlich erleichterte und ihre Ausflüsse mit abstoßendem Plätschern auf den Boden tropften.
Gaspard wich zurück vor der Abscheulichkeit, stützte sich an der Wand ab. Etienne fuhr fort, jede einzelne Leiche mit Interesse zu betrachten, die Pathologie mit klinischer Aufmerksamkeit zu erörtern: »Zweifellos ein Krebs, der Bauch ist von innen aufgetrieben, die Glieder sind viel zu stark angeschwollen.« Er nickte, ging zum Nächsten über. Als er merkte, dass Gaspard einer Ohnmacht nahe war, lächelte er. »Der Tod ist hässlich, nicht wahr? Das ist er immer. Er ist nie beschaulich, nie ruhmvoll. Der Tod ist derb, und in diesem Exzess findet er seine unaussprechliche Schönheit, weil er den Menschen offenbart, endlich zu Wort kommen lässt, was er ein Leben lang verleugnet oder versteckt hat: einen Körper, vor allen Dingen einen Körper. Bei unseren Philosophen ist gerade das Studium der Seele in Mode. Die Seele … Schauen Sie doch, suchen Sie sie, was ist sie? Sehen Sie sie hier? Nein, hier gibt es keine Seele, nur Körper, am Ende angelangte Körper, vollendete Körper, dargeboten in ihrer Fäulnis.« Gaspard erbrach einen glänzenden Strahl Galle, die über den Boden lief. Etienne betrachtete ihn diskret, kam endlich näher, reichte ihm ein Taschentuch und wartete, bis er sich abgewischt hatte. Als Gaspard wieder zu Atem kam, fuhr er gleichgültig fort: »Der Betrug Gottes ist eine der Lehren dieses Jahrhunderts, aber wie viele andere wird es brauchen, bevor wir ihn endlich eingestehen können, und sind wir überhaupt dazu imstande?« Er lachte amüsiert auf. »Schließlich braucht es Antworten. Ohne Gott ist der Tod nur der Tod, die Existenz ohne Sinn. Das ist viel mehr, als wir verkraften können. Ja, es braucht Antworten, darauf zum Beispiel.« Er zeigte mit einer einladenden Armbewegung durch das Gitter auf die Körper. »Nicht von ungefähr heißt der Ort Leichenschauhaus. Hier wird
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