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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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eine Schau geboten. Amüsant, nicht? Aber ist es nicht legitim? Sie sind tot, unbekannt, arm darüber hinaus. Es sind, alles in allem, nur Gegenstände. Warum widern sie Sie so an? Welcher Teil von Ihnen findet sich in diesen Dingen so vehement wieder, dass Sie bei ihrem Anblick derartigen Abscheu empfinden? Ein Freund, ein Forscher, erzählte mir einmal von einem exotischen Volk, das bei jeder Totenfeier die Leiche ausgräbt, um sie mit an den Tisch zu setzen und mit ihr zu speisen, manchmal zu tanzen, um sie zu ehren, zu unterhalten.« Lachend deutete er ein paar Tanzschritte an. Gaspard brachte kein Wort heraus. Etiennes Ungezwungenheit stieß ihn ebenso stark ab, wie sie ihn faszinierte, nicht anders als die Körper, die seine Aufmerksamkeit immer wieder zur anderen Seite des Gitters lenkten. »Finden Sie das geschmacklos, mein Junge? Es ist nur eine Eigenart, ganz wie Ihr offensichtlicher Ekel, der viel mit der Moral zu tun hat. Jedoch ist zu sagen, dass die Eingeborenen den Tod überhaupt nicht fürchten, darum kommen sie so gut mit seiner Anwesenheit am Tisch zurecht. Natürlich haben ihre Werte nichts mit den unseren gemein. Stellen Sie sich ein vergleichbares Essen bei der Duchesse de Bance vor, wäre das nicht überaus komisch? Sie müssen wissen, dass man, um so zu leben, wie ich lebe, falls das Ihre Ambition ist, den Tod nicht fürchten darf und die gesamte Moral außer Acht lassen muss. Aber gut, gehen wir, bevor es nötig wird, Sie auf der anderen Seite hinzulegen!« Und damit ging er die Treppe hoch. Gaspard richtete sich auf, spuckte auf den Boden und stürzte ihm hinterher. Bevor er die Basse Geôle verließ, konnte er es jedoch nicht lassen, die reglos aufgereihten Hampelmänner noch einmal mit dem Blick herauszufordern.
    Auf dem Rückweg wich Etiennes Euphorie einer mürrischen Verdrossenheit. Er drückte sich in eine Ecke der Droschke und sprach kein Wort. Hin und wieder warf die Scheibe sein bleiches Spiegelbild zurück. Gaspard, dessen Unwohlsein noch nicht verflogen war, betrachtete verstohlen das Adlerprofil des Grafen. Hatte sein noch immer andauernder Ekel mit dem Anblick der Leichen oder mit dem ihm vorausgegangenen Debakel zu tun? Als der Wagen vor dem Atelier hielt, verabschiedete sich Gaspard von Etienne. Dieser blieb in die Betrachtung der Scheibe vertieft. »Wann sehen wir uns wieder?«, wagte Gaspard zu fragen, dessen Puls durch die Adern jagte. »Bald«, murmelte Etienne mit einer Stimme, in der Überdruss mitschwang. Gaspard betrachtete ihn ein paar Sekunden, bevor er einen Fuß auf den Boden stellte und den Schlag hinter sich schloss. Die Kutsche machte sich sofort über das Pflaster davon. Die Nacht schien kälter und feindseliger als beim Verlassen der Basse Geôle. Er beeilte sich, ins Atelier zu kommen, betrat den Eingang, der noch immer vom Gestank des Kellers durchdrungen war. Er bemerkte sofort, dass die Tür zur Werkstatt halb offen stand. Über dem Holzgeländer schaukelte ein gelblicher Lichtschein. Er war sicher, dass er sie geschlossen und die Kerzen gelöscht hatte. So war er nicht erstaunt, Billod vorzufinden, der im Nachthemd, auf einen Stuhl gesunken, einen Leuchter in der Hand, an einem der Regale lehnte. Der Kopf lag auf der Schulter, und vom Mundwinkel lief ein Speichelfaden über den Ärmel, wo er einen grauen Ring formte. Als Gaspard die Tür hinter sich zuzog, schrak er hoch und sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Sein Gesicht lief puterrot an, er fuchtelte mit einem Zeigefinger in Richtung des Lehrlings, stammelte, brummte, ging auf und ab. Sein Baumwollhemd flatterte über den Boden. »Aber … Aber … Wo glauben Sie eigentlich, dass Sie sind?« Gaspard drückte sich mit unterwürfiger Miene an die Wand. Er hatte sich die Bewegung des Vorhangs also nicht eingebildet, als er ein paar Stunden zuvor in den Wagen gestiegen war. Inzwischen hatte ihn der Mut verlassen. Jetzt schämte er sich, seine Pflicht vernachlässigt und seinen Meister enttäuscht zu haben. »Erbärmliches Geschmeiß! Schauen Sie sich an, ein Hasenfuß, der nicht einmal fähig ist, seine Fehler einzugestehen! Meinen Sie, ich weiß nicht Bescheid? Ich weiß nicht, was für ein Herumtreiber Sie sind? Dass Sie Ihre Unterkunft und Ihren Meister verlassen, sobald es Abend wird? Ah, Sie Schuft, da kennen Sie mich aber schlecht! Ich bin kein Dummerjan! Da setzt man sich einfach über die Vorschriften hinweg, strolcht nachts wie eine Ratte herum, und tagsüber wird geratzt, statt zu arbeiten!

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