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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sich noch unsicher in dieser Beziehung. Zu seiner Verwirrung kam, noch stärker als am Tag zuvor, das körperliche Begehren nach dem Comte hinzu, das in ihm brannte. Diese lodernde Flamme war ihm unverständlich, hätte er doch Etienne wegen seiner Treulosigkeit, seiner willkürlichen Boshaftigkeit eher verachten müssen. Er zwang sich dazu, dieses Gefühl in ihm entstehen zu lassen, um anschließend festzustellen, dass es unecht war, dass der Graf durch sein Verhalten vielmehr seine Sinnlichkeit aufstachelte, sein Verlangen nach seiner Person und danach, den Weg noch besser kennenzulernen, auf den er ihn führen wollte. Diese Erschütterung brachte ihm eine Erkenntnis seiner selbst, die ihn wenig freute. Aber es war nicht mehr möglich, diese Beziehung, die einen großen Teil seines Lebens ausmachte, zu beenden, und er verstand nicht, wie er ohne sie überhaupt hatte existieren können. Er musste Etienne wiedersehen. Vielleicht könnte er sich ihm dann anvertrauen? Bestimmt würden sie gemeinsam die Lösung finden, die zur Stunde noch im Dunkeln lag. Der Schlaf entriss Gaspard schließlich seinen Gedanken, um ihn der Qual der Träume auszuliefern.
    Drei Wochen vergingen, ohne dass Gaspard Nachricht von Etienne de V. erhielt. Er verbrachte seine Nächte damit, vom Fenster aus die Straße abzusuchen in der Hoffnung, ihn zu entdecken und ihm durch ein Zeichen mitteilen zu können, dass er das Atelier nicht mehr verlassen durfte. Manchmal glaubte er die Gestalt des Grafen auf sich zukommen zu sehen, doch wenn der Passant aus dem Schatten trat, war es nur ein Unbekannter, den seine Erwartung in Etienne verwandelt hatte. Wäre der Graf über dieses Schweigen beunruhigt gewesen, hätte er tagsüber im Atelier vorbeikommen können; Billod wäre gezwungen gewesen, ihn zu empfangen. Aber nichts dergleichen geschah. Schließlich begann Gaspard sich Sorgen zu machen. Er horchte auf das Geschwätz der Kunden, doch vom Grafen war nie die Rede. Wäre etwas passiert, hätte es Aufsehen erregt, und Gaspard wäre als einer der Ersten davon unterrichtet worden. Er musste der Tatsache ins Gesicht blicken: Etienne wollte ihn nicht mehr sehen.
    Der November verbarg Paris unter einer Schicht Raureif. Die Straßen wurden lebensgefährlich. Man lief in kurzen Schritten, sicherte sich mit der Hand an der Wand ab, denn ein unvorsichtiger Fußgänger konnte mit Leichtigkeit unter die Räder einer Droschke geraten. Der gefrorene Matsch, unaufhörlich von den Füßen und den Hufen zerstampft, wurde schließlich zu einer dickflüssigen Suppe, die an den Sohlen, den Kleidern klebte, das Fleisch berührte, schmolz und alles nass machte. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen, die vermummten Gestalten schlotterten, man drängte sich in die Häuser hinein, mietete noch den heruntergekommensten Kasten, um sicher zu sein, die Nacht nicht draußen verbringen zu müssen. Manche erinnerten sich kaum an ihre Adresse, da sie täglich wechselte. Am Morgen wurden die ersten Leichen gefunden, blau und kalt wie Saphire, die Augen weiß, zwei eisige Perlen. Die Kunden zeigten sich öfter im Atelier: Unbeirrt wurden Salons abgehalten, um die Abende herumzubringen. Mit kleinen Ausgaben vertrieb man sich die Langeweile der kalten, trüben Tage. Billod nahm Gaspards Betrübnis und Unterwürfigkeit als Regung des Gewissens, freute sich über sein Schweigen, sein distanziertes Auftreten, auch wenn er ihm seine ständigen Schussligkeiten vorwarf. Der Lehrling versuchte nicht zu flüchten, was ihn ausreichend von der Wirkung seiner Predigt überzeugte. Etiennes Abwesenheit jedoch drückte wie eine unerträgliche Last auf Gaspard. Jede Minute erinnerte ihn an die Zeit, die er mit ihm zusammen verbracht hatte, und ließ viel zu viele Fragen ohne Antworten. Der Alltag im Atelier wurde trister als gewöhnlich. Der junge Mann schaffte es nicht, seine Aufmerksamkeit auf die üblichen Handgriffe zu konzentrieren. Unaufhörlich wanderte sein Blick zum Fenster, gingen seine Gedanken dorthin, wo er Etienne vermutete. Es gab eine latente Hoffnung, denn er wusste aus Billods Erzählungen von der Neigung des Grafen, die Hauptstadt ohne Vorwarnung zu verlassen. Vielleicht konnte er seine Wiederkehr in einigen Tagen, einigen Wochen erwarten. Um nicht den Verstand zu verlieren, klammerte sich Gaspard an diese Aussicht. Denn seine Grübeleien spielten ihm übel mit, führten ihm vor Augen, wie schwach, wie rührselig er sich verhalten hatte und dass er für sein Unglück selbst

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