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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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verantwortlich war. Es war nur verständlich, dass Etienne ihn verachtete, ihn auf die Folter spannte. Jeden Abend belauerte Gaspard, die Stirn ans Fenster zur Straße gepresst, die beweglichen Schatten dort unten. In ihm tobte ein innerer Kampf. Wenn Etienne nicht zurückkam, würde er sich in die Seine werfen. Die Ungewissheit bohrte sich wie ein glimmendes Stück Holz unaufhörlich in seinen Bauch. Das Schweigen war eine Qual, durch die Gaspard jede einzelne Sekunde seiner Existenz bewusst wahrnahm. Es war eigenartig zu sehen, wie dieses Detail, unsichtbar für die Kunden, seinen Alltag im Atelier auf den Kopf stellte. Gaspards Qual veränderte die Wahrnehmung der Dinge, er beobachtete alles mit Gleichgültigkeit, sich selbst und seinem engen Universum fremd. Als Billod ihm eine Besorgung auftrug und er endlich die Erlaubnis bekam, das Haus zu verlassen, schien ihm die Stadt eintöniger denn je. Das schwache Licht hatte seinen Kampf gegen den Schatten der Straße aufgegeben. Die Sonne hatte sich seit Wochen nicht mehr gezeigt, und überall hatte sich eine feuchte Fäulnis verbreitet, die Steine, Häute, Unterkünfte erfasste. Es stank wie in einem Mausoleum. Als Kind war Gaspard einmal in eine der Gruften des Friedhofs von Quimper eingedrungen, die nie Tageslicht zu sehen bekamen. Es war Sommer, er hatte eine Eidechse gejagt und sich auf ihrer Verfolgung durch den Spalt in der kleinen Tür gezwängt. Nur ein Kind konnte dort hineinschlüpfen. In seiner Gedankenlosigkeit fand er sich plötzlich abseits der Welt, in den Eingeweiden des Marmors, dort, wo das Leben außer Kraft gesetzt war. Die Eidechse hatte sich in eine Spalte geflüchtet. Nur Gaspard und die Stille der Steine waren übrig geblieben. Der Geruch war feucht, schwer, mit erdigen Düften, mineralischem Frohlocken, von längst verblühten Blumen durchzogen. Aus den Tiefen des Bodens unter seinen Füßen strömte die Ausdünstung von sich zersetzendem Holz, verfallenden Körpern, von fetter, genährter Erde. Der Geruch nach Leichen, nach dem vom Menschen in einen heiligen Ort verwandelten Tod. Der Geruch einer Kirche, erbaut aus Lehm, Granit und Fleisch. Der Geruch eines Weihwasserbeckens, in das er, noch ein Kind, aus Trotz oder Neugier sein Gesicht getaucht hatte. Der Geruch des novemberlichen Paris war nicht dazu angetan, seine Angst zu besänftigen, er irrte durch die Straßen und meinte unter jedem Umhang und in jeder Droschke Etienne zu erblicken.
    Wieder spielte die Stadt ihr Spiel mit ihm, nutzte seine Verwirrung aus, um ihn zu überlisten, ließ Geister und Trugbilder auf ihn los … Nach ungefähr zwanzig Tagen sagte sich Gaspard, er würde Etienne nicht mehr wiedersehen, der Graf habe ihn wahrscheinlich verleugnet, seine Existenz vergessen und werde seinen Fuß nie wieder in die Werkstatt setzen, um den jämmerlichen Schüler nicht mehr sehen zu müssen, der seine Aufmerksamkeit nicht zu schätzen wusste. Genau in dem Augenblick – er glaubte, nichts mehr von Billod und vom Leben erwarten zu können –, als er anfing, die Möglichkeiten ins Auge zu fassen, die der Fluss bot, um seiner Qual ein Ende zu setzen, tauchte der Comte Etienne de V. wieder auf.

V

ERSTE SCHRITTE
IN DER GESELLSCHAFT
    Billod ging hinunter, um die Tür zu öffnen und sich zu vergewissern, dass Gaspard nicht geflüchtet war. Als der Lehrling ein beleidigtes Glucksen und die männliche Stimme hörte, die von der Tür zur Treppe gedämpft wurde, wusste er, dass der Graf da war. Sein Blut stockte. Er wollte sich ihm entgegenstürzen, fasste sich jedoch rechtzeitig. Er durfte sich nicht noch einmal kompromittieren, musste sich natürlich verhalten. Es war denkbar, dass Etienne als gewöhnlicher Kunde kam und ihm nicht die geringste Beachtung schenkte. Dieser Gedanke jagte ihm einen Schrecken ein. Er holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Er wartete, dass die beiden Männer einen Stock höher kämen, doch sie blieben unten und unterhielten sich mit leiser Stimme. Misstrauisch näherte sich Gaspard der Tür, legte das Ohr an den Spalt. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er die Worte verstehen konnte, die sein Meister und der Graf wechselten: »Hören Sie auf, nach ihm zu suchen, ich bitte Sie«, flehte Billod, »ich habe ihm untersagt auszugehen. Wollen Sie mei-nen Lehrling vom rechten Weg abbringen? Haben Sie denn keinen anderen Zeitvertreib?« Gaspard hörte Etiennes spöttisches Lachen: »Billod, Billod, fassen Sie sich! Das sind mir große Worte. Und bald fließen die

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