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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Körper gaben nur wenig Wärme ab, ihre Häute waren glatt und undurchdringlich. Die Abfolge der Freier zehrte sie so sehr auf, dass jede Annäherung schmerzhaft wurde. Wenn sie keinen Schlaf fanden, standen sie wieder auf, erschöpft von dem Gedanken, die an die Freier gerichteten Gesten zu wiederholen. Die Lust, von der sie nicht mehr sicher waren, ob es eine war – denn keiner von ihnen suchte ein Bedürfnis zu befriedigen, das zu einer täglichen Pflicht geworden war –, quälte sie so sehr, dass sie bei den Zimmerkameraden Erleichterung zu finden suchten. Geübt darin, das Vergnügen vorzutäuschen, um beim Kunden ein ähnliches Gefühl hervorzurufen, griffen sie in der Intimsphäre einer Decke zu denselben Posen, stöhnten schmachtend, schauderten theatralisch. Sie erkannten beim anderen das Schauspiel nicht, machten sich beide etwas vor, um doch nichts als Enttäuschung zu ernten, den Eindruck, erneut gescheitert zu sein auf der Suche nach einer Empfindung. Gaspard, denn noch besaß er eine bald verblassende Hellsicht, fand, dass in den Zärtlichkeiten der Jungen und der Erwartung an sein eigenes Fleisch das Bedürfnis lag, einem anderen Lebewesen als dem Freier zu begegnen, jemandem, der für den Augenblick der Hingabe das Gefühl einer Gemeinsamkeit ermöglichte, die Gewissheit, ein Mensch zu sein, eines echten Gefühls fähig. Doch stets von neuem betrogen, fanden sie sich als Akteure eines Scheintheaters wieder, irrten im Flur herum auf der Suche nach einem Hauch von Mitgefühl. Gaspard war sich nicht mehr so sicher, dass er ihrer Bitte aus lauter Mitgefühl nachkam, sondern fragte sich, ob er diesen Kontakt nicht selbst wünschte. Er forderte ihn schließlich durch einen hastig hingeworfenen, jedoch deutlichen Blick heraus.
    Es schien ihm, dass die Freier sich in ihnen entluden, was das Verhalten der Jungen und bald auch das seine rechtfertigte. Die Päderastie galt als Perversion, ein Laster, dem die Männer in Anonymität und in der Angst frönten, in den Kerker gesteckt zu werden. Die Kunden zahlten für die Sicherheit, ihrer Neigung nachgehen zu können, ohne in einer dunklen, feuchten Straßenecke mit der Hose auf den Gamaschen von einem Nachtwächter überrascht zu werden. Ihre Gesten, sobald sie sich mit Gaspard – oder einem der anderen Jungen – einschlossen, verrieten eine Verzweiflung, die die Undurchdringlichkeit ihrer Blicke nicht zu maskieren vermochte, die Gewissheit, einen verwerflichen Akt zu begehen, was verzehrende Schuldgefühle zur Folge hatte. Wahrscheinlich hatte ihre Neigung einen harten Kampf mit den Geboten der Schicklichkeit ausgefochten, bevor sie sich geschlagen gaben, nicht mehr wussten, wie sie das Feuer zum Ersticken bringen sollten, dem zwingenden Ruf folgten und den Weg zum Bordell einschlugen. Manche empfanden einen Ekel vor sich selbst, den sie auf das Objekt ihrer Begierde übertrugen. Gaspard lernte die Kunden zu erkennen, deren Augen vor Groll funkelten, als wäre er, Gaspard, der Schuldige für dieses Gefühl. Nichts als die Gesetze und die Forderungen der Schicklichkeit rechtfertigten das Schamgefühl dieser Männer – von denen manche nicht die geringste Schulbildung besaßen –, das sie nicht anders legitimieren konnten als durch das Argument des Bösen oder der Amoralität. Es musste, folgerte Gaspard, eine tief verankerte Überzeugung geben, seit undenklichen Zeiten von ihresgleichen eingepflanzt, dass ihre Lust – um Liebe ging es dabei nie, denn da sie sich weigerten, diese Form der Sinnlichkeit zu akzeptieren, verschlossen sie sich jeder Sublimation dieser einfachen Neigung durch das Gefühl – gegen die Natur verstieß und nichts anderes als Abweisung hervorrufen konnte. Als er mit Etienne zusammen war, hatte Gaspard nie jene Abneigung gefühlt, die er nun gegen die Freier hegte. Er verachtete sie, weil sie feige waren, wie er sämtliche Männer, ja das ganze Menschengeschlecht verachtete, das nur uniforme Geister hervorbrachte, einander gleich bis zur Groteske, sämtlich dazu bestimmt, ihn von der Gattung auszugrenzen. Denn nicht genug, ihn aus der Gesellschaft auszuschließen, bezichtigten ihn die Freier, aber auch alle anderen , wie er jene bezeichnete, die außerhalb der Wände dieses Hauses ihr Leben lebten, sämtlicher Übel, stießen ihn zurück, wie die Herde ihrem Überleben zuliebe instinktiv das sterbende Lamm ausschloss. Musste Gaspard so tun, als würde er zu Recht angeklagt für die schändliche Lust, die er bei seinen Kunden

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