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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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hervorrief? Brauchte es Menschen wie ihn, von der Allgemeinheit verworfen, die anderen dazu dienten, ihre Feigheit, ihre Niedertracht auszuleben? Gaspard lehnte diesen Gedanken zunächst hartnäckig ab. Der Hochmut der Kunden jedoch sickerte ein wie ein Gift. Weigerte er sich zu Beginn, sich als Grund für ihr Laster zu sehen, dachte er schon bald, dass sein Körper ihren Abscheu verdiente. Etienne und Billod hatten ihn dazu gebracht, sich zu hassen, und die Freier vertieften diese Verachtung. Gaspard fühlte die Wut und den Abscheu gegen sich selbst wachsen, die er auch für die Menschheit fühlte. Er ließ die Zärtlichkeiten der Jungen über sich ergehen, erwiderte sie mit derselben Gereiztheit, da er sicher war, in diesem Austausch nie mehr als das Echo eines Zorns, einer unzerstörbaren Verleugnung finden zu können.
    Eines Tages, als ein Freier auf seiner Schulter eingeschlafen war, wurde ihm bewusst, dass in ihm eine Veränderung stattgefunden hatte. Aus dem halb offenen Mund des Mannes lief ein Speichelfaden auf seinen Hals. Er verfolgte mit dem Blick graue Staubflocken, die von der Decke auf sie zuschwebten und sich wie Tusche auf die Lider seiner halb geschlossenen Augen legten. Durch den Spalt schienen die Gipsteilchen sich wie Januarwolken vor den stahlblauen Himmel zu schieben, den das mit einem Mal von draußen ins Zimmer eingedrungene Licht in der verformten Vision Gaspards erzeugte. Er meinte einen Augenblick, unter seinem Rücken fettes, frisches Gras zu spüren, das sich an ihn schmiegte, auf der Haut eine Brise zu fühlen. Und war diese Flüssigkeit, die sich auf seinem Hals wie eine feuchte Zärtlichkeit anfühlte, nicht der erste dicke, schwere Tropfen eines Regenschauers? Gaspard wusste, dass es möglich war, mit geschlossenen Augen die Wirklichkeit des Zimmers zu filtern, unendliche Landschaften auferstehen zu lassen, sie seinem jeweiligen Willen und Geschmack entsprechend zu formen. Doch schlug er die Augen wieder auf, würde die Wiese erneut zum Zimmer werden, der Regentropfen zu Speichel, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Kann ich mich wirklich , überlegte Gaspard, mit dem zufriedengeben, was mein Geist zu meiner Zerstreuung erfindet ? Dann, mit einer Stimme, die nicht seine, sondern die von Billod oder Lucas zu sein schien: Wer ist schuld? Hatte Gaspard es aus Ehrgeiz und Naivität so weit kommen lassen? War er aus eigenem Antrieb auf dieses Bett und diesen über seine Schultern sabbernden Kunden zugesteuert? Hatten ihn seine Absichten und Entscheidungen an diesen Ort geführt, an dem er sich verloren hatte? Diese Vorstellung zu akzeptieren, hieß, die Ansicht der Freier und der Leute außerhalb dieser Mauern zu akzeptieren, die ihn als den Schuldigen ansahen. »Ich bin unschuldig«, sagte er mit lauter Stimme, denn erst wenn die Worte ausgesprochen waren, bekamen sie einen Sinn. Der Kunde knurrte, wischte sich mit dem Handrücken über das Kinn. Sein gedrungener Nacken lag schwer auf Gaspards Arm und ließ seine Hand steif werden. Er betrachtete seine gekrümmten Finger, lockerte sie, sodass sie träge in den Raum zeigten, aber kein Gefühl versicherte ihm, dass diese Hand die seine war. Sie schien aus totem Fleisch zu bestehen. In welcher Illusion musste sich der Kunde wiegen, der auf Gaspards Arm gebettet lag? Trotz ihrer Nähe, dem flüchtigen Aufeinandertreffen ihrer intimsten Stellen, fühlte er sich diesem Mann fremd. Nichts verband sie, ihre Umklammerung war wie ein Gemälde, dessen Bedeutung er nicht verstand. Der Kunde löste bei Gaspard Mitleid aus. Er wollte ihn an den Schultern packen, ihn zur Vernunft bringen, ihn aufklären: »Du irrst dich«, wollte er sagen, »ich fühle nichts für dich, und du weißt überhaupt nichts von mir.« Aber er hätte sich nur den Ärger, ja den Zorn des anderen eingehandelt, und so ließ er ihn lieber in Ruhe. Er war dumm und schwach, aber reichte das, um ihm die Schuld zu geben? War sein Schlaf nicht der Beweis dafür, dass er in seiner Illusion glaubte, Gaspard könne ihn lieben, und sich selbst dieser Liebe für würdig hielt? Dass er sich täuschte, tat nichts zur Sache, die Menschen hatten eben eine erstaunliche Fähigkeit, sich etwas vorzugaukeln, dachte Gaspard. Wieder bewegte er die fremd gewordene Hand. Sollte er warten, bis die Lähmung seinen ganzen Körper erfasst hatte, bis er nach und nach überhaupt kein Gefühl mehr besaß, bis ihm die Empfindung seines Fleisches genommen war, genauso wie seine Fähigkeit zu einer

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