Die Erziehung - Roman
graugrünen Fluten wurde ihm elend. Er hatte geglaubt, seinen Freund, seinen einzigen wahren Freund, verachten zu müssen. Etwas schien ihn um jeden Preis von den anderen fernhalten zu wollen, eine Strömung, eine Brandung, die ihn von Zeit zu Zeit zu ihnen trieb, wie das Meer ein Stück Holz ans Ufer warf, dann wieder packte und in die Tiefe riss. Eine Fatalität nahm ihm die Fähigkeit, auf irgendjemanden, auf sein eigenes Leben, auf die Welt Einfluss zu nehmen. Was konnte er gegen dieses Schicksal ausrichten, und welche Rolle war ihm darin zugedacht? Die Absurdität von etwas, das er nur mit großer Mühe wahrnahm – der Natur –, schien in seiner jämmerlichen Existenz den idealen Ort gefunden zu haben, um ihre Inkohärenz und ihre sibyllinische Komplexität zum Ausdruck zu bringen. Ja, die Welt, das zermürbende Leben, die Zivilisation, die Geschichte, Paris, der Alltag, alles bedrängte Gaspard, zerdrückte Gaspard, zermalmte Gaspard. Daran dachte er, den Blick noch immer auf Emmas Tür geheftet, in der Dunkelheit des Flurs eines grauen Hauses in einer Stadt unter so vielen anderen. »Was soll ich bloß tun?«, fragte sich Gaspard, und nichts als der Lärm der Straße antwortete ihm. Tatsächlich, was konnte er anderes tun, als auf Emma und den Mann zu warten, ihnen eines Szene zu machen, die ihnen pathetisch vorkommen würde, aber für Gaspard so viel mehr ausmachte als den Drang, Emma zu besitzen? Was konnte er, der Strichjunge, anderes tun als aufzustampfen, mit den Fäusten zu schlagen und zu toben angesichts der ausweglosen Nichtigkeit seines Lebens?
Er wartete, von der Rechtmäßigkeit seines Grolls bestärkt, bis die Geräusche hinter der Tür ankündigten, dass man aufgestanden war, die Stimmen wieder ihre enervierende Fröhlichkeit bekamen, die Gesten zärtlich wurden und das Geräusch von Küssen zu ihm drang. Gaspard rüstete sich wie ein Boxer vor dem Kampf, spannte seinen Körper, ballte die Fäuste und reckte den Kiefer, streckte die Brust heraus, setzte eine bedrohliche Miene auf. Der Zorn kochte in ihm, während er seinen Auftritt probte, die Worte, die er Emma entgegenschleudern würde. Worte, die ihre Zielscheibe nicht verfehlen, die sie verblüffen und den anderen in die Flucht schlagen würden. Doch plötzlich ging die Tür auf, und in dem Sonnenstrahl, der auf sein Gesicht fiel, konnte er nur ein kräftiges Handgelenk ausmachen. Dann erschien der Mann im Türrahmen, begleitet von Gelächter. Angesichts seiner Statur und seines gepflegten Aussehens fiel der Zorn, der sich in Gaspard aufgebläht hatte wie ein Segel im Wind, in sich zusammen. Von seiner Wut blieb nur noch ein Fetzen irgendwo tief in ihm drin, und sein ganzer Körper sackte ein. Der Mann musterte ihn erstaunt, etwas verächtlich auch, denn dieser mit dem Schatten verschmolzene, mit der Wand verwachsene Junge, der ihn vom Flur her beobachtete, war völlig unbedeutend. Gaspard konnte das Gesicht des Mannes, der seine Pläne zunichtemachte, nicht sehen, aber über seiner Schulter erschien das von Emma, und es lächelte, als sie ihn sah. Ein Lächeln voller Wohlwollen , dachte Gaspard. Als der Mann ein Stück durch den Flur gegangen war, kam sie näher, und er fühlte ihren leicht alkoholisierten Atem, sah ihren vom Schweiß glänzenden Hals. Dem Zimmer entwich eine von Körpergerüchen gesättigte Welle, durchzogen von der Ausdünstung der Geschlechter. Gaspard glaubte sich für einen Augenblick einer Ohnmacht nahe. »Bitte, bitte«, flehte Emma, »lass ihn mitkommen.« Der andere zuckte die Schultern, und sie stürzte auf Gaspard zu, packte wie am ersten Tag sein Handgelenk und sagte begeistert: »Komm, wir gehen etwas trinken!« Dann zog sie ihn hinter dem Mann her, der die Tür zur Straße aufstieß und sicheren Schrittes mit erhobenem Kopf in die Nacht eintauchte. Wie am ersten Tag wollte Gaspard protestieren, denn er fühlte sich zu schwach neben diesem Individuum, dem er auf keinen Fall gewachsen war und das ihn an Etienne erinnerte. Etwas an dieser stattlichen Erscheinung würde auf der Stelle jeden um ihn herum erdrücken, selbst wenn man seine Gesellschaft bestimmt suchte. Die Vorstellung, Emma so seine ganze Bedeutungslosigkeit vor Augen zu führen, quälte ihn, und seine Vorsätze waren wie weggeblasen. Was ihm wenige Minuten zuvor als dringend notwendig erschienen war, schrumpfte nun zu einer Winzigkeit, ein paar aneinandergereihten Dummheiten. Es kam ihm erbärmlich vor, dass er Emma oder den Mann mit solchen
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