Die Erziehung - Roman
Gemütsregung? Und da es für all das nun mal einen Schuldigen brauchte, war nicht Etienne der Grund für die Wendung, die Gaspards Geschick genommen hatte? Er, der alles dafür getan hatte, ihn zu vernichten, bevor er ihn den Pariser Straßen überlassen hatte? Mit etwas Abstand erkannte Gaspard, dass Etienne sich als geschickter Manipulator erwiesen hatte. Wie konnte ich mich nur so missbrauchen lassen? , fragte er sich. Der Comte de V. erschien nun genauso bedrohlich wie der Fluss, der ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchte. Auch wenn er jetzt, da er an Rache dachte, nicht genau wusste, wie er das Ruder herumreißen sollte, begriff Gaspard, dass eine Umkehr möglich war, dass es genügen würde, die Karten, die Etienne ihm aus Versehen zugespielt hatte, geschickt einzusetzen. »Was hab ich denn schon zu verlieren?«, fragte er sich gedankenversunken. Das Schnarchen des Kunden war ihm Antwort genug.
Emma hatte sich in einen kleinen Ganoven vernarrt. Da Gaspard sie distanziert erlebte, beschloss er eines Abends, sie in eine Schenke einzuladen, um einen Moment mit ihr zusammen zu sein. Die Idee schien ihm gut, und so verließ er heiter vor sich hin pfeifend sein Zimmer, ging beschwingten Schrittes die Treppe hinunter. Im Flur des Erdgeschosses steuerte er auf Emmas Zimmer zu und wollte eben an die Tür klopfen, als er durch die Tür ersticktes Glucksen hörte, Geräusche, die klangen, als würde jemand um das Bett herum rennen, sich dann auf die Matratze werfen und keuchende Atemzüge ausstoßen. Da er sie nicht mit einem Kunden überraschen wollte, lehnte er sich an die Wand und wartete geduldig. Doch was er für einen kurzen Besuch gehalten hatte, zog sich hin, und Emmas Worte schienen ihm, auch wenn er ihren Sinn nicht verstand, zu schmeichelnd für einen Kunden. Der Gedanke, ein anderer könnte Emma nahe sein, sie könnte einem Unbekannten die Vertrautheit und die Zuneigung entgegenbringen, die er für sich allein in Anspruch genommen hatte, stach ihm wie eine Lanze ins Fleisch. Welcher Mann meinte, er könne das Gefühl an sich reißen, das sie beide miteinander verband? Gaspard tobte. Die Eifersucht brach sich unaufhaltsam ihren Weg. Er fühlte sich von dem Mann betrogen, von Emma, aber da war noch eine andere Emotion, die dieses Ereignis, so harmlos es war, aufflackern ließ. Es war, als ob sich Etienne mit Emma im Raum befunden hätte und Gaspard durch ihre Liebesspiele doppelt betrogen worden wäre. Er hatte zu viel in die Dirne investiert und merkte nun, dass er auf dem Holzweg war: Er stellte für sie nichts als einen Lückenbüßer dar. Er war dumm gewesen, mehr von ihr zu erwarten, mehr als eine Freundschaft, die sich durch einen Unbekannten vereiteln ließ. Gleichzeitig schrie ein Teil in ihm, dass es vielleicht zu einfach war, Emma so rüde zu beurteilen: Hatte er nicht selbst ihr Vertrauen missbraucht durch die Macht, die er über sie zu besitzen glaubte? Hatte sie nicht das Recht, anderswo zu finden, was er ihr nicht geben konnte? Doch Vernunft war seinem Herzen fremd, und Gaspard hatte für alles, was sich, in Wirklichkeit oder als Hirngespinst, in Emmas Zimmer abspielte, nur Hass übrig. So beschloss er zu warten, bis der Mann gehen würde. Er würde die Kraft aufbringen, mit dem Eindringling abzurechnen, um Emma im Anschluss dazu anzuhalten, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Stundenlang wartete er im Flur, bis seine Beine im Holzfußboden zu versinken schienen und es um ihn herum Nacht geworden war. Der Korridor lag in einem havannafarbenen Lichtschein, und seine Gestalt, sein Gesicht lösten sich darin auf. Gaspard fixierte die starren Wände. Seine Aufmerksamkeit war auf die Geräusche hinter der Tür gerichtet, die er bald als sattes Schnarchen deutete. Natürlich wusste er, dass es nicht Etiennes Körper war, der sich dort in den Laken aalte. Natürlich wusste er, dass er Emma nicht das Recht auf eine Romanze streitig machen konnte, wofür sich in der Einsamkeit der Gassen nur selten die Gelegenheit bot. Aber unter seiner Haut meldete sich diese Traurigkeit, diese in seinem Bauch zusammengeballte Einsamkeit, warf sich gegen die Grenzen seines Körpers. Er fragte sich, was er tun musste, um von anderen Beständigkeit zu erfahren, anstatt immer nur von ihnen enttäuscht zu werden. Warum , so fragte er sich, bin ich vor Lucas geflüchtet? Warum habe ich ihm den Rücken gekehrt? War es etwa rühmlicher, hier zu sein, als im Schlamm des Flusses herumzuwaten? Bei der Erinnerung an die
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