»Die Essensfälscher«. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen
Anträge auf g.g.A.-Schutz vor. Verbraucherfreundlicher ist dagegen das EU -Siegel für die »geschützte Ursprungsbezeichnung«, kurz »g.U.«. Es bestätigt, dass die
gesamte
Erzeugung, Herstellung und Verarbeitung eines Lebensmittels in einem bestimmten geographischen Gebiet nach einem festgelegten Verfahren erfolgte. Dieses Siegel tragen zum Beispiel der italienische Parma-Schinken, der Kanterkaas aus Holland, Korsischer Honig, Tiroler Almkäse oder das Fleisch der Lüneburger Heidschnucke. In der EU gab es Ende 2009 annähernd 500 geschützte Ursprungsbezeichnungen und rund 200 Anträge. »Regionalität ist ein Konstrukt der Nahrungsmittelindustrie«, analysiert kühl der Wirtschaftsgeograph Ulrich Ermann, der sich am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig seit Jahren mit Regionalprodukten beschäftigt. Im Grunde sei es doch so, sagt Ermann: »Zuerst ist zum Beispiel für eine Bratwurst gar nicht genau festgelegt, wie sie gewürzt und zusammengesetzt sein muss. Aber als geschütztes Produkt sind Herstellungsweise und Rezeptur plötzlich bis ins Detail spezifiziert. Man erfindet eine zu schützende Bratwurst quasi neu.«
Offenkundig setzten Lobbyisten ihre Hebel an. Im Fall des Schwarzwälder Schinkens ist das der Schutzverband der Schwarzwälder Schinkenhersteller, den man sich nicht als eine Gruppe rühriger Metzgermeister vorstellen darf, die ein vom Aussterben bedrohtes oder von Lebensmittelmultis bedrängtes Produkt retten. In Wahrheit sind derlei Verbände Lobbygruppen. Ihr Erfolg hängt stark davon ab, wie mächtig, wie gut vernetzt sie in der Politik sind und wie viel Geld ihre Verbände und Unternehmen für das jahrelange Antragsverfahren bei der Europäischen Union zur Verfügung stellen. Auch Geschick und Glück spielen eine Rolle, aber nicht, ob der Verbraucher davon profitiert. Der kann nicht nachvollziehen, warum beim Schwarzwälder Schinken ein bisschen lokale Luft und Rauch für die Herkunftsbezeichnung ausreichen, während bei der Thüringer Bratwurst 51 Prozent der Rohstoffe aus der Region stammen müssen. Warum die Frankfurter Würstchen und die Münchner Weißwurst nicht geschützt sind, wohl aber die Nürnberger Rostbratwurst. Warum in einem Glas Spreewalder Gurken auch Gurken schwimmen dürfen, die nicht aus dem Spreewald sind. Warum Schwarzwälder Schinken nur im Schwarzwald und Lübecker Marzipan nur in Lübeck hergestellt werden dürfen, aber niemand auf die Idee kommt, dass Kassler würde nur in Kassel produziert oder Hamburger nur in Hamburg. Und warum das Kölsch in Köln gebraut sein muss, aber das Pils nicht in Pilsen.
Dieses Verwirrspiel ist das Resultat eines undurchsichtigen Prozesses, in dem Nahrungsmittelunternehmen und ihre Lobbyisten mit europäischen Politikern und Verwaltungen um Begriffe kämpfen. Es geht dabei um den Zugang zu neuen Märkten, um die Abschottung gegen Konkurrenten, es geht um das Besetzen von Claims im globalen Marktkampf. Um den Kunden geht es bei all dem zu allerletzt. Und wenn es einem Unternehmen opportun erscheint, kann es den Herkunftsschutz auch schnell wieder zurückgeben. So ließ eine englische Brauerei den erst zwei Jahre zuvor gewährten Herkunftsschutz für ihr »Newcastle Brown Ale« wieder löschen, weil die Produktion im Stadtzentrum nicht mehr rentabel war; die Brauerei beschloss, den Standort zu schließen und die Produktion des Biers an einen anderen Standort in England zu verlagern. Gäbe es die einfache, verbraucherfreundliche Regel, dass ein Lebensmittel mit Herkunftsbezeichnung auch aus der genannten Region stammen muss, könnte Abraham seine Schinkenfabrik in Schiltach einpacken. Aus dem einfachen Grund, weil es nie so viele Schweine im Schwarzwald gab und niemals geben kann wie im flachen Niedersachsen, Holland und Belgien zusammen. Es gäbe vielleicht wieder ein paar Schwarzwald-Bauern mehr, die es auf sich nähmen, Schweine zu mästen, aber Großbetriebe würden sie schon deshalb nie, weil sich die Hoteliers und Tourismusämter wehrten. Es gäbe vielleicht einige neue lokale Schinkenproduzenten, deren Ware jetzt wieder sehr unterschiedlich schmecken würde und nicht so genormt wie bei Abraham. Mit Sicherheit aber gäbe es weniger Schwarzwälder Schinken auf der Welt, er wäre viel teurer, und er wäre etwas, das man nicht gedankenlos bei Aldi aus dem Regal nimmt, sondern etwas Besonderes, das man sich beim Urlaub im Schwarzwald gönnte. Dann würde einem vielleicht wieder bewusster, dass in einer endlichen Welt auch das
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