»Die Essensfälscher«. Was uns die Lebensmittelkonzerne auf die Teller lügen
45 Prozent mehr Goldfisch-Kräcker als die Kinder in der Vergleichsgruppe. Eine andere Studie in den USA , ebenfalls von 2009, stellte fest, dass übergewichtige Kinder empfänglicher für Lebensmittelwerbung sind als normalgewichtige Kinder: Viermal aßen die Kinder gemeinsam zu Mittag, bei zwei Mahlzeiten wurden bekannte Lebensmittelmarken gereicht (zum Beispiel Joghurts), bei zwei Mahlzeiten wurden dieselben Speisen in neutralen Behältern serviert. Zur Überraschung der Forscher aßen nur die übergewichtigen Kinder mehr, wenn bekannte Marken-Lebensmittel auf dem Tisch standen, und zwar 40 Kalorien pro Mahlzeit. Solche Ergebnisse sind letztlich nicht überraschend, und wäre es anders, würde die Lebensmittelindustrie nicht Jahr für Jahr weltweit viele Milliarden in Werbung für Kinderprodukte investieren. In zwei Worten: Werbung wirkt. Wer sollte das besser wissen als die Werber? Und sie wirkt besonders gut und besonders schlimm, wenn Kinder in ein Netz aus parallel wahrgenommener Fernseh-, Print- und Internetwerbung verstrickt werden, aus dem sie gar nicht mehr aussteigen können. Es entstehen eben genau jene manipulativen »Werbewelten«, von denen die »smarten« Werbepädagogen des BLL sprechen.
Damit Kinder in diesen »Werbewelten« nicht verlorengehen, braucht es keine Schulung ihrer »Werbekompetenz«, um das Treiben von uns Erwachsenen zu entlarven. Es braucht vielmehr Verantwortung der Wirtschaft für und ihren Respekt vor Minderjährigen. Verpackungen für Kinderlebensmittel sähen dann ganz anders aus. Sie appellierten nicht an den Sammel- und Spieltrieb der Kleinen, sie beuteten nicht deren Verehrung für Idole aus. Verantwortliche Werbung bestünde aus sachlicher Information vor allem über die enthaltenen Nährwerte. Verantwortliche Lebensmittelmanager, jedenfalls solche, denen die Übergewichtsproblematik der einzelnen Kinder und der Gesellschaft insgesamt ein Anliegen ist, würden sich überhaupt weitgehend heraushalten aus dem Geschäft mit Werbung für Kinderprodukte. Sie würden einen weiten Bogen machen um Schulen und Sportveranstaltungen, um Kindergärten und Kindersendungen im Fernsehen; dafür würden sie deren Eltern, die mit Abstand die besseren Ernährungsberater sind, noch bessere, sachlichere Informationen über ausgewogene Ernährung anbieten. Doch leider tun das die Unternehmen meist nicht freiwillig, wie eine weitere Studie aus den USA zeigt. Die Organisation »Children Now« untersuchte, was aus den freiwilligen Selbstverpflichtungen großer US -amerikanischer Nahrungsmittelhersteller wie PepsiCo, Kellogg oder General Mill geworden war; 2007 hatten sie zugesagt, ungesunde Nahrungsmittel nicht mehr für Kinder zu bewerben. Das ernüchternde Ergebnis zwei Jahre später: Fast drei Viertel der im Fernsehen für Kinder beworbenen Produkte gehörten unter Nährwertgesichtspunkten zur schlechtesten Kategorie – es waren solche Produkte, die nach Angaben der Behörden nur ausnahmsweise zu Anlässen wie Geburtstagen gegessen werden sollten. Werbung für Gemüse und Früchte fand dagegen praktisch überhaupt nicht statt – sie machte nur ein Prozent aller Lebensmittelwerbung für Kinder aus. Die einzige Schlussfolgerung aus solchen Erkenntnissen, für die es seit Jahren immer neue Belege gibt, lautet: Erklärungen zur Selbstregulierung setzen keine verlässlichen Mechanismen in Gang. Die Lebensmittelwirtschaft hat hier versagt und deshalb ist jetzt die Politik gefragt. Besonders für unsere Kinder müssen Schutzzonen geschaffen werden, werbe- und kommerzfreie Räume, in denen sich die Persönlichkeiten entfalten können. Vor allem für Kitas, Kindergärten und Schulen muss gelten: Hier hat die Lebensmittelindustrie nichts zu suchen.
Von all dieser Kritik, diesen Argumenten und Warnungen zeigen sich Lebensmittelkonzerne und Handelsriesen bisher unbeeindruckt. Sie folgen blind einer brüchig gewordenen Wachstumsstrategie, die vorgaukelt, durch immer neue Kreationen und scheinbare Innovationen langfristig Rendite zu bringen. Doch die Anzeichen mehren sich, dass dieses Geschäftsmodell zum Scheitern verurteilt ist. Es dient nur scheinbar den Interessen der Verbraucher, in Wirklichkeit haben sich die Konzerne weit davon entfernt, die Menschen mit gutem, ehrlichem und gesundem Essen zu versorgen. Entscheidend wird sein, wie stark sich die Erkenntnis durchsetzt, dass wir Verbraucher nicht mit ehrlichen Lebensmitteln versorgt, sondern getäuscht werden. Erster Unmut macht sich breit,
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