Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
Bedürfnis weckt.
»Wir kaufen heute nicht Dinge ein, die wir unbedingt brauchen, sondern wir kaufen Dinge ein, die wir irgendwann optional mal gebrauchen könnten«, analysiert der Psychologe. »Wir versuchen für jede Stimmungs- und Lebenslage gerüstet zu sein. Darum kaufen wir letztendlich immer zu viel.«
Der Verbraucher steht in einem Dilemma, so Stephan Grünewald: »Einerseits will er die volle Auswahl, für alle Eventualitäten gerüstet sein, gleichzeitig aber verzweifelt er an der Auswahl, steht minutenlang vor dem Regal und gerät in einen Zustand des Produktflimmerns und weiß am Ende gar nicht mehr, wo er zugreifen soll.«
Das Interview führen wir in einem mittelgroßen Supermarkt, vor einem Kühlregal, das auf zwölf Metern Länge nur Joghurt in allen Varianten anbietet. Das ist heute der Standard. Wozu brauchen wir über 100 Joghurt-Sorten? Stephan Grünewald schmunzelt: »Heute ist unser Kühlschrank eine Art Stimmungsapotheke. Die Leute kaufen den Joghurt nicht, um satt zu werden, sondern um ihren Lebenshunger zu stillen. Das heißt, sie brauchen einen Joghurt, der sie morgens aktiviert, einen Joghurt, der sie Nachmittags ausbalanciert, einen Joghurt, der die Abwehrkräfte stärkt, einen Joghurt, der die Verdauung anregt, und das bitte in allen Geschmacksvarietäten, dadurch entsteht diese ungeheure Fülle.«
Wir Konsumenten kaufen also ständig mehr ein, als wir eigentlich brauchen. Wir sind verführbar und oft nicht in der Lage, unseren tatsächlichen Bedarf realistisch einzuschätzen. Dass unsere Kaufentscheidungen nicht rational sind, das wissen die Marketingfachleute natürlich: »Wir wollen Produkte haben, die uns in jeder Stimmungslage weiterhelfen, die uns den Kick geben, die uns beruhigen, die uns aufladen, aber diese vielen wunderbaren Optionen können wir im Alltag gar nicht einlösen. Dafür haben wir zu wenig Zeit oder einen zu kleinen Magen, und irgendwann ist das Datum abgelaufen.«
Seine Erkenntnisse erhält der Psychologe durch eine ganz eigene Methodik: Anders als andere Marktforscher, die eher eine große Anzahl von Menschen mit dem Fragebogen besuchen, führen Grünewald und sein Team vom rheingold-Institut eher wenige, dafür aber ausführliche Gespräche. Der Klient liegt dabei auf der Couch, wie bei der klassischen Psychoanalyse. »Wir schaffen einen geschützten Rahmen, um die Widersprüchlichkeit des modernen Menschen besser durchleuchten zu können.« Anschließend wird das tiefenpsychologische Interview noch dem Realitätscheck unterworfen – indem die Probanden bei einem Einkauf begleitet und in ihren Entscheidungen beobachtet werden.
Und was denken und fühlen die Menschen, wenn sie Lebensmittel wegwerfen? »Beim Wegwerfen sind die Verbraucher hin- und hergerissen. Einerseits haben sie ein schlechtes Gewissen, weil sie die Kriegserzählungen der Eltern im Ohr haben, und sie wissen vom Hunger der Dritten Welt und dass wertvolles Essen wegzuwerfen eigentlich unredlich ist. Andererseits sind sie umzingelt von einer Fülle von Produkten, die sie jeden Morgen aus dem Kühlschrank anstarren und auffordern: ›Iss mich, aktivier mich, reguliere deine Verdauung …‹ Am Ende fühlen sie sich von diesen ganzen Produkten umzingelt und entwickeln einen Zorn dagegen, dann sind sie so erleichtert, wenn sie alles mit einem Befreiungsschlag entsorgen können.«
Das Mindesthaltbarkeitsdatum, so der Psychologe, hat dabei die Funktion einer Gewissensentlastung: »Ich habe dadurch die Berechtigung, Nahrungsmittel wegzuwerfen, obwohl in der Dritten Welt Kinder hungern. Ich mache es ja im Sinne der Gesundheit. Und dann kann ich wieder von vorne anfangen. Wenn ich reinen Tisch gemacht habe, beziehungsweise reinen Kühlschrank, dann kann ich wieder mit Freude in den Supermarkt laufen und in dieser ganzen Vielfalt schwelgen und mir Produkte wieder herankarren.«
Die meisten Menschen, die Stephan Grünewald auf der Couch hatte, gehen davon aus, dass die Lebensmittel nach Erreichen dieses Datums ungesund werden. »Ich habe mehrfach sogar von Verbrauchern gehört, die kurz vor Mitternacht den Kühlschrank stürmen, um vor der Verfallsgrenze die letzten Produkte zu vertilgen.«
Wir haben offenbar verlernt, unseren Sinnen zu vertrauen. Wir geben es in die Hände der Industrie, die uns über das aufgedruckte Datum sagt, was gut ist und was nicht.
Die Verkäufer in den Supermärkten wissen es selbst oft nicht. Wie oft habe ich dort gehört: »Das Gesetz verbietet es uns, Produkte zu
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