Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
war über 20 Jahre lang Abgeordneter der Grünen im Europaparlament und ist heute Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft.
Auf dem mittelalterlichen Bauernhof ist die Inschrift einer seiner Vorfahren: »Graefe ist kein adliger Titel, das kommt ursprünglich von Deichgraf, meine Ahnen mussten sich also um den Hochwasserschutz kümmern.« In einer Scheune steht eine weitere Sortieranlage. »Nur bei den Frühkartoffeln sondern wir die ›schlechten‹ direkt auf dem Feld aus, weil es da schnell auf den Markt geht. Sonst machen wir das hier auf dem Hof.«
Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf ist 64. Er hat die Entwicklung der letzten Jahrzehnte erlebt. Er findet das Diktat des Handels unerträglich, und dagegen tun kann er nichts. Aber den Mund will er sich deswegen nicht verbieten lassen: »Man müsste das, was der menschlichen Ernährung zugänglich ist, auch dafür gebrauchen. Aber der Handel kann bestimmen, wie er Qualität definiert.«
Besonders gefallen mir die großen herzförmigen Kartoffeln, sie erinnern mich an den Film »Les glaneurs et la glaneuse« von Agnès Varda, die mit solchen Herzkartoffeln eine ganze Kunstinstallation gemacht hat. Und hier werden sie von Hilfsarbeitern vom Fließband sortiert und weggeworfen.
»Die Händler interessiert nicht die Ernährungsqualität, nur die Handelsqualität. Sie kaufen nach rein äußeren Kriterien und sagen: ›So müssen sie aussehen, sonst nehmen wir sie nicht ab, und die Ware geht zurück!‹ Das erleben wir auch, wenn wir nicht danach handeln.« Der gemütliche Mann lächelt, aber es ist ein bitteres Lächeln: »Das ist immer schärfer geworden. Einem alten Bauern tut das weh. Das ist nicht nur Geld, sondern das ist auch nicht richtig.«
Am Ende der Erntezeit kommen traditionell ganze Familien zur Nachlese. Es ist nicht schwer, auf dem Acker liegen überall die Kartoffeln verstreut. Und es lohnt sich auch, wenn man schon nicht mehr so schnell ist, wie der 70-jährige Gerhard Liebe. Der Rentner setzt einen Einkaufskorb voller Kartoffeln auf die Erde und erzählt: »Ich hab das schon mit meiner Großmutter gemacht, in den neuen Ländern, wo meine Familie herkommt. Das spart Geld: Nach zwei, drei Tagen Arbeit habe ich genug Kartoffeln, um über den Winter zu kommen.«
Mich beeindruckt die Zufriedenheit in seinem Gesicht, wenn er auf seine »Ernte« schaut. In zwei Wochen, sagt Gerhard Liebe, will er Karotten nachlesen, und erklärt mir auch, wo genau das Feld liegt. Bereitwillig teilt er mit mir sein Wissen, hat keine Angst vor Konkurrenz: »Da kommen viele, aber es ist genug da für alle«, meint der sympathische Rentner. Er erinnert mich an meinen Großvater – der war Bauer und hatte selber viele Kartoffeln. Damals war es noch selbstverständlich, dass die Leute aus dem Dorf zur Nachlese kommen.
In vielen Ländern Europas wurde den Armen ausdrücklich zugestanden, nach der regulären Ernte auf den Feldern die Reste einzusammeln. Bei den Erzählungen meines Großvaters beeindruckte mich am meisten, dass sogar auf den Weizenfeldern nachgelesen wurde. Geerntet wurde damals noch von Hand, mit der Sense, und dennoch blieben einige Halme übrig – und die wurden vor allem von den Frauen eingesammelt.
Ich habe diese bäuerliche Welt selbst nie kennengelernt. Aber mein Großvater vermittelte mir die damals allgemein verbindliche ethische Haltung dieser Welt: Essen ist heilig. Die Nachlese war deshalb so etwas wie eine Pflicht. Der französische Maler Jean-François Millet verewigte die ländliche Alltagsszene auf seinem beeindruckenden Gemälde »Les Glaneuses«. Es gehört heute zu den berühmtesten Ausstellungsstücken des Pariser Musée d’Orsay. Doch was damals Alltag war, ist heute nicht mehr selbstverständlich.
Nicht jeder Bauer sieht es gern, wenn auf seinen Feldern nachgesammelt wird, anstatt im Laden gekauft. Ganz anders Graefe zu Baringdorf: »In einer Welt, in der fast eine Milliarde Menschen Hunger leidet, kann man doch nicht dagegen sein, wenn Leute kommen und hier nachsammeln. Es sind doch wertvolle Lebensmittel. Ich bin froh, weil sie mich von dieser ethischen Problematik etwas befreien.«
Einen weiteren Teil der potenziellen Müllkartoffeln rettet Baringdorf, indem er die Kartoffeln einem befreundeten Rinderzüchter gibt. Mit dem Gabelstapler holt er eine riesige Kiste von Kartoffeln und fährt sie in den Kuhstall. Im Austausch bekommt er dafür Rindfleisch – und macht daraus eine unglaublich leckere
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