Die Essensvernichter: Warum die Hälfte aller Lebensmittel im Müll landet und wer dafür verantwortlich ist (German Edition)
verkaufen, die abgelaufen sind.« Dabei gibt es solch ein Gesetz in Deutschland gar nicht. Für den Händler ändert sich allerdings schon etwas Entscheidendes: Bis zum Ablaufdatum garantiert der Hersteller, dass das Produkt einwandfrei ist, danach geht die Haftung auf den Händler über. Das Risiko will keiner eingehen. Nur deshalb werden keine abgelaufenen Produkte verkauft.
Aber warum hält der Handel ständig mehr Ware vor, als tatsächlich verkauft werden kann? Warum versucht er nicht zu vermeiden, dass er täglich tonnenweise gut essbare Lebensmittel vernichten muss? Man könnte doch den Lagerbestand knapper kalkulieren und würde dabei noch Kosten sparen. Es müsste doch schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen das Bestreben jedes Händlers sein, möglichst wenig wegzuwerfen.
Michael Gerling analysiert die Lage so: »Wir haben in Deutschland im Lebensmittelhandel mehr Verkaufsfläche pro Kunde als überall sonst auf der Welt. Und die Ansprüche der Menschen sind gewachsen. Das heißt: Wir haben einen sehr starken Wettbewerb, und der Konsument hat eine unendliche Auswahl an Möglichkeiten und entscheidet sich immer nur für die besten.«
Wir sind es gewohnt, immer volle Regale zu haben, zu jeder Tageszeit, an jedem Wochentag. Bei frischen Produkten aber heißt dies automatisch auch: Was heute nicht gekauft wird, muss am nächsten Morgen entsorgt werden. Für den Händler ist es schlimmer, wenn ein Kunde zur Konkurrenz geht, weil er einmal sein Lieblingsprodukt nicht im Regal vorfindet, als einen Teil der Ware wegzuwerfen. Das kostet zwar, aber nicht den Händler, sondern die Kunden. Denn die entsorgte Ware ist natürlich eingepreist: Wenn wir zehn Joghurtbecher kaufen, dann zahlen wir einen weiteren mit, der im Müllcontainer landet. Also all die Verluste, die in Handel und Logistik entstehen. Noch weit größere Mengen werden schon zuvor vernichtet, bei der Erzeugung der Lebensmittel.
Damit wir ständig genug frischen Salat im Angebot haben, muss immer etwas mehr angebaut werden. Rolf Ark aus Roisdorf bei Bonn ist Salatbauer in der zweiten Generation: Sein Vater erntete noch alles, was auf dem Feld wuchs. Rolf Ark hingegen wartet auf die Bestellungen des Agrargroßhändlers Landgard. Gibt es keinen Bedarf, dann verliert er nicht groß die Zeit bei der Ernte, sondern pflügt die Salatköpfe einfach unter. Das passiert jedes Jahr mehrfach, ohne dass der Salat in irgendeiner Art und Weise fehlerhaft wäre. Es ist schlicht und einfach Überproduktion.
Wir haben versucht, auch mit Kartoffelbauern ins Gespräch zu kommen. Im gesprächigen Rheinland ist das vielleicht etwas leichter, dachten wir uns, und fingen im Kölner Umland an. Was müssen Sie bei der Ernte aussortieren? Die Antworten rangierten von »Wir nutzen alles« (was schon rein technisch nicht möglich ist) bis zu »Wir müssen eine ganze Menge aussortieren, aber das wollen wir nicht gefilmt haben. Fragen sie doch mal im nächsten Hof nach«.
Offenbar ist es den Bauern genauso peinlich wie den Supermärkten, über das Wegwerfen zu reden. Sie verdrängen ihre Taten, weil sie es ungern machen. Schließlich fanden wir Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf, Kartoffelbauer im westfälischen Spenge.
Wir kommen zur Ernte der Frühkartoffeln, die 2010 wegen des trockenen Sommers ungewöhnlich spät erst Ende August beginnt. Bauer Baringdorf sitzt auf dem Trecker, hintendran ein riesiger feuerroter Anhänger, der sogenannte Roder. Auf ihm sortieren zwei Helfer die Kartoffeln auf einem Gitter aus – weg müssen die zu kleinen, aber auch die zu großen und all diejenigen, die eine ungewöhnliche Form haben. »Die gelten nicht als verkaufsfähig. Wir legen Kriterien an, die mit der Ernährungsqualität nichts zu tun haben, das ist nur fürs Auge oder fürs Schicksein, da kommt man schon ins Nachdenken.«
Auch Exemplare in Herzform, die ich besonders schön finde, müssen raus. Oder Kartoffeln mit einem grünen Fleck oder einer kleinen Macke. Baringdorf hebt eine Kartoffel auf, sie hat eine längliche Delle. Fast schon zärtlich streicht er mit seinem Daumen durch die Vertiefung: »Der Ernährungswert ist derselbe, die würden genauso gut schmecken, aber der Handel nimmt sie uns nicht ab«, klagt der Bauer. »Insgesamt bleiben 40 bis 50 Prozent der Ernte hier auf dem Feld zurück. Wer das nicht weiß, der denkt, hier sei überhaupt noch nicht geerntet worden.«
Dass ihn seine Bauernkollegen als schwarzes Schaf beschimpfen, davor hat er keine Angst. Er
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