Die Eule - Niederrhein-Krimi
sie die Augen, begann nach einem tiefen Atemzug mit fester Stimme zu berichten.
»Im Xantener Gästehaus haben wir übernachtet, hatten den Fluss am Nachmittag des Freitags mit dieser Fähre Keer Tröch von Bislich aus überquert. Sehr hübsch da. Um sechs in der Früh begann unser Tag mit einem gemeinsamen Gebet. Wir konnten einen der Tagungsräume in Ruhe nutzen. Früher, als es noch Norberthaus hieß, gab es dort eine Kapelle, modern, aber ein gesegneter Ort der Besinnung. Jetzt ist an dieser Stelle der Schankraum, eine Schande. Wir beteten in der Morgendämmerung für einen guten Weg, gute Gedanken und die Erleuchtung unserer Herzen auf dem Pilgerweg. Alle waren hellwach und bereit, den Tag willkommen zu heißen. Ein reichhaltiges Frühstück erwartete uns im Speiseraum. Um sieben stand unser kleines Gepäck bereit, um in das Begleitfahrzeug geladen zu werden. Wir begaben uns planmäßig auf den stummen Weg.«
»Darf ich Zwischenfragen stellen?«
»Bitte.«
»Was bedeutet das, ›stummer Weg‹?«
»Innere Einkehr bedarf keiner Worte. Wortlos und stumm miteinander zu beten sind wir gewohnt, unsere Ebene ist die geistige. Wir hatten uns vorgenommen, bis Kevelaer zu schweigen. Unser Bruder Theodor übernahm das Banner von mir, mir war der Arm zu schwer nach den Kilometern des Vortages. Am Landhaus Röschen bogen wir auf die Xantener Straße ab, ein strahlender Tag öffnete unsere Herzen, der Weg zur Anhöhe der Sonsbecker Schweiz lag vor uns, wir hatten gutes Tempo. An der Kreuzung nach Labbeck kam Unruhe in der Gemeinschaft auf, da reichte auch ein strenger Blick nicht mehr aus. Der Lkw stand oben auf der Anhöhe, kaum ein anderes Fahrzeug war auf der Straße. Das einzige Geräusch kam von diesem Kraftwagen, der Fahrer spielte mit dem Gaspedal, ließ den Motor in Abständen aufheulen.«
»Das muss doch gespenstisch gewirkt haben. Aber sie blieben immer noch stumm?«
»Es gab keine Veranlassung zu sprechen, Frau Krafft, da stand ein Fahrzeug auf der Straße, weit weg von uns, und mochte Schwierigkeiten mit dem Motor haben. Die Situation hatte nichts direkt Bedrohliches an sich. Ich brachte die Maschine erst mit uns in Verbindung, als sie den Hügel herunterraste und die Fahrbahn wechselte.«
Sie verstummte und rieb sich kurz die Hände, drückte die Fingerkuppen aneinander, betrachtete ihre Daumen, die hochragten.
»Das ging am Ende alles so schnell. Von der Fahrbahn wechselte er auf den Radweg, da befand er sich schon vor uns. Der Kai Manzel schrie, der würde uns treffen, der käme auf uns zu, da war es auch schon passiert. Es krachte, Menschen flogen durch die Luft, stoben auseinander wie aufgescheuchte Tauben. Schreie. Metallisches Getöse, als der Wagen in die Böschung kippte. Der Motor würgte ab. Dann war es für einen Moment still. Ich wagte kaum zu atmen, konnte nicht glauben, was da geschehen war.«
»Die Unverletzten?«
»Waren alle aus den letzten Reihen. Man hatte uns regelrecht niedergemäht, Frau Krafft, die weltliche Kraft eines Lastkraftwagens hatte einen Großteil meiner Glaubensbrüder und Schwestern einfach aus der Blüte ihres Lebens gerissen. Die mir bestens bekannten Menschen lagen da mit furchtbaren Verletzungen, Blut schoss aus zerrissenen Arterien. Drei Tote! Ich wusste nicht, wo ich beginnen sollte, alles um mich herum, was noch lebte, schrie nach Hilfe. Ich rüttelte die anderen, die noch in Ordnung waren, und wir verteilten uns. In dem Augenblick, als ich aus meinem Schal eine Kompresse für Monika machte, kamen uns die Malteser zu Hilfe und übernahmen die Erstversorgung der schlimmsten Verletzungen. Dann geschah alles sehr schnell, die Polizei, die Hilfskräfte, das Zelt. Ich sprach ein intensives Gebet für alle, die jetzt abtransportiert wurden, ein Hubschrauber nach dem anderen landete und startete nach wenigen Minuten, das Geflirre der Blaulichter warf unruhige Blitzmuster in das Zelt. Theodor war tot, Kai hatte keine Chance gehabt, und Holger lag zerquetscht unter dem Lkw.«
Karin mochte die eingetretene Stille nicht durchbrechen, trank langsam den abgekühlten Kaffee. Unvermittelt schaute Cornelia Garowske auf, blickte ihr geradewegs in die Augen.
»Ich lieh mir von diesem jungen Malteser ein Handy und telefonierte kurz mit dem Diakon, der in Kevelaer die Pilgerbetreuung übernimmt. Er war sehr betroffen, bot mir Unterstützung an. Richtig anrührend erkundigte er sich nach meinem Befinden. Er ließ sich den Hergang schildern und wollte zur Unfallstelle gefahren
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