Die Eule - Niederrhein-Krimi
hielt eine flammende Rede über die Gefahren der Welt und den bevorstehenden Untergang, den nur sie, die »Gerechten der Welt«, durch gemeinsames Beten und besonnenes Handeln aufhalten könnten. Dazu wäre es vonnöten, die Seele in der Mitte Gleichgesinnter zu reinigen. Die Novizen der Gemeinde dürften der Zeremonie beiwohnen, damit sie selbst künftig die Gunst der reinigenden Wirkung erfahren könnten. Zunächst seien sie herzlich aufgenommen.
Mit einer kleinen Geste forderte sie einen Handlanger auf, Karin Krafft, Gero von Aha und einer weiteren Frau ein Papier zu überreichen, das zusammen mit einem Kugelschreiber auf eine Pappunterlage geklemmt war. Zur Aufnahme gehöre die Offenbarung der gegenwärtigen Lebenssituation, fuhr Con fort. Man lasse sie in gutem Geist den Bogen ausfüllen und sich somit der Gemeinde öffnen.
Karin versuchte, ihre Überraschung zu verbergen, und zog in Zeitlupe den Kugelschreiber von der Unterlage. Worauf hatte sie sich eingelassen? Name, Geburtsdatum, Adresse. Die wollten eine Bestandsaufnahme. Zweifel packten sie. Wollte sie ihre privaten Daten preisgeben? Name des Lebenspartners, Alter und Namen der Kinder – dieser Teil verfügte über viele Sparten. Sie befürworten Kinderreichtum, dachte Karin, mein Gott, soll ich Moritz und Hannah diesen Menschen preisgeben? Den lieben Maarten hier in einer Kartei aufführen, ohne die Konsequenzen meines Tuns einschätzen zu können?
Die Gemeinde wartete auf die Neulinge, die Stille drückte auf Karins Schläfen, nahm ihr die Luft zum Atmen. Aufstehen und gehen? Den Einsatz gefährden oder abbrechen? Plötzlich fühlte sie sich von vielen Augenpaaren beobachtet. Schnell, sie musste unverzüglich eine Entscheidung treffen, um nicht aufzufallen. Mutter. Ihre Mutter Johanna Krafft lebte in Bislich-Büschken an der Himmelsstiege inmitten einer aufmerksamen Nachbarschaft und beschützt durch ihren Partner Henner Jensen. Sie würde sich diese Adresse borgen.
Karin begann zu schreiben. Hauptkommissarin, keine Kinder, geschieden, alleinstehend. In der letzten Zeile bestätigte sie mit ihrer Unterschrift die gewissenhafte Angabe ihrer Lebensdaten. Und völlig überraschend verselbstständigten sich ihre Finger und zauberten einen zweiten Vornamen auf das Papier. Karin Sybille Krafft. Sybille, die Freundin aus alten Schulzeiten, die es schaffte, ohne mit der Wimper zu zucken, das Blaue vom Himmel zu lügen. Sybille unterschrieb diese schmale Biografie.
Karin schielte auf von Ahas Bogen, erkannte als Berufsangabe »Koch« und einen schwer leserlichen Phantasienamen. Als Neuling in der recht übersichtlichen Stadt konnte er sich die angebrachte Tarnung leisten und musste nicht fürchten, entlarvt zu werden. Die andere Frau war noch beschäftigt, schien einige der vielen Zeilen für die Angaben über Kinder zu füllen. Lautlos näherte sich der Handlanger und sammelte Formulare, Unterlagen und Stifte wieder ein. Karin tauschte mit ihrem Nachbarn einen schnellen Blick aus. Irgendwo in diesen Räumlichkeiten gab es eine Mitgliederkartei.
Mit geteilter Aufmerksamkeit folgte Karin dem Rest des Abends. Die Reinheit des Geistes beschwor Con herauf, bot Meditation und Zeit zum Gebet, rief zur Läuterung im Zweiergespräch auf. Bereitwillige standen auf, setzten sich hinter Con einander gegenüber und begannen, über Verfehlungen und schlechte Gefühle zu berichten. Karin erkannte ein festgelegtes Ritual, bestehend aus einer Kette unterschiedlicher Fragen. »Du hast etwas getan?« »War es recht?« »Willst du dich mit Herz und Geist verändern?« Es folgte eine Anleitung zur inneren Veränderung. »Bemüh dich, denke um, fühle anders. Zeig uns dein aufrichtiges Bemühen. Wiederhole folgenden Satz zwanzigfach morgens, mittags, abends und zur Nacht.«
Die sogenannten »Gereinigten« stellten sich neben Con und trugen der Gemeinde ihre Zustimmung in ständig zu wiederholenden Leitsätzen vor.
»Ich werde mit reinen Gedanken den Tag gestalten und freundlich zu meinen Mitmenschen sein.«
»Ich werde treu sein und den Versuchungen an meiner Arbeitsstelle widerstehen.«
So befremdlich die ganze Veranstaltung wirkte, den Männern und Frauen, die sich abwechselnd neben ihrer Glaubensführerin aufbauten, standen Erleichterung und Glück in die Gesichter geschrieben. Die Gemeinde reagierte mit tiefer Zuneigung, applaudierte nach amerikanischem Vorbild begeistert nach jeder Offenbarung. Con besaß eine charismatische Strenge und bestimmte mit unscheinbaren
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