Die Eule - Niederrhein-Krimi
Fenster, das ein Stück Himmel freigab, über das ein bedrohlicher, dunkler niederrheinischer Wolkenberg heranzog. Er wird sich in einem gewaltigen Guss entladen und wahrscheinlich direkt über mir, dachte er, der sonst keineswegs depressive Neigungen besaß, dafür aber ein erkleckliches Maß an Aufmüpfigkeit und Freibeutertum.
Gero von Aha schälte sich aus der wärmenden Bettdecke, setzte sich seine megamoderne Hornbrille auf die Nase, deren oberer Rand von seinen buschigen Augenbrauen überwuchert wurde. Links und rechts standen seine dunklen Haare winklig vom Kopf ab, was ihm schon früh den Ruf eines eulenartigen Aussehens eingebracht hatte. Aha, der Uhu. Seine Augen glitten über gestapelte Umzugskartons, von denen einige als Couchtischersatz zusammengeschoben waren. Dass sich darauf angefettete Imbissteller, Plastikbesteck nebst offenen, müffelnden Bierdosen verteilten, weckte seine Sinne wie mit einem Alarmruf.
Düster kam die Erinnerung an einen improvisierten Umzug mit Kollegenhilfe, die Anstrengung, zig Treppenstufen ins Dachgeschoss des Gebäudes am Großen Markt unter Schwerlast bewältigen zu müssen, weil er dummerweise zu viele Kartons mit seinen Büchern vollgestopft hatte, und protestierende Helfer. Harte Arbeit und der anschließende Absturz in wechselnder Gastronomie am Weseler Kornmarkt waren nur noch gekrönt worden von der Abfuhr, die er sich, zugegebenermaßen restalkoholgeschwächt und übernächtigt, im Kommissariat geholt hatte, als er die Dienstfahrt nach Erfurt erneut vorschlug. Das alles hatte ihn mental so ausgelaugt, dass er erst zielstrebig seine neue Heimat am Kornmarkt aufsuchen musste, bevor er im schleppenden Gang seine Wohnung eine Ecke weiter ersteigen konnte.
Diese und wahrscheinlich noch mehr ungeordnete Gedanken blubberten in Gero von Aha hoch an diesem Samstagmorgen, an dem das Leben unterhalb seiner Bleibe auf dem Wochenmarkt bereits munter tobte. Er nannte die Erkenntnisse in solchen unübersichtlichen morgendlichen Situationen gern den ›Aha-Effekt‹, was schlicht umschrieb, wie lange er nach dem Aufwachen oft brauchte, um sich zu orientieren.
Mühselig schleppte er sich ans Fenster und nahm den nicht unattraktiven Blick über den Platz, auf den Dom und die gegenüberliegende Trapp-Zeile auf. Mochte ja sein, dass dies das Herz der Stadt war, wie die Einheimischen gern gemütvoll fabulierten. Das kam ihm, der aus der historischen Universitätsstadt Göttingen an den Niederrhein geraten war, nein, gab er vor sich selbst zu, geflüchtet war, doch überzogen vor. Früher war er beim LKA Niedersachsen gewesen, hatte es sattgehabt, sich mit Durchstechereien, organisierter Kriminalität und immer grotesker werdenden Einmischungen junger, topausgebildeter Vorgesetzter, die wenig Ahnung vom Aufwand minutiöser Fahndung, dafür umso mehr von Ergebnispräsentationen zugunsten eigener Karriereschritte hatten, herumzuschlagen. Was seine Ex nicht nachvollziehen konnte. Weshalb sie sich aufs Übelste stritten, ja sich heillos zerstritten. Eine Scheidung und zwei Versetzungsanträge waren das Ergebnis. Sie ging nach Berlin.
Und er? Gero von Aha hatte sich entschlossen, ins selbst gewählte Exil zu gehen, in eine kleine, überschaubare Mittelstadt in größtmöglicher geographischer Distanz zur Ex und mit messbarer Entfernung zu den Metropolen und ihrer wuchernden Kriminalität. Im Internet hatte er gelesen, dass Wesel den Beinamen »Vesalia hospitalis« führte, was er als alter Lateiner sofort mit »gastfreundliches Wesel« übersetzen konnte. Wer vor Jahrhunderten Glaubensflüchtlinge aufgenommen hatte, damit auch die Blüte der Stadt vorangetrieben hatte, der würde auch Gero von Aha aufnehmen. Zumal noch genügend Distanz zum Ruhrgebiet bestand, das ihn zwar kulturell anzog, jedoch für harte kriminelle Strukturen bundesweit bekannt war.
So wie die Glaubensflüchtlinge mit ihren Kenntnissen als Tuchmacher und in anderen Handwerken die Stadt Wesel vorangebracht hatten, so hatte er in einem Anfall von Selbstbewusstsein, der ihm jetzt wie Überheblichkeit vorkam, geglaubt, er würde der hiesigen Kriminalpolizei mit seinem schieren Erscheinen einen Schub verpassen. Doch was war der Fall? Er war nach wenigen Tagen mit seinen eigenwilligen Methoden aufgelaufen, musste kriminalistische Kleinarbeit verrichten und wurde zu allem Überfluss rüde gestoppt, als er mehr intuitiv als begründet die persönliche Stasiuntersuchung in der thüringischen Landeshauptstadt vorschlug. Der
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