Die Eule von Askir
In Jahrhunderten war Desina die Einzige gewesen, für die sich die Pforte des Eulenturms geöffnet hatte. Für Orikes, für den persönliche Loyalität zu den wesentlichsten Charaktereigenschaften zählte, war es eine einfache Rechnung. Die Kaiserstadt erhielt eine Eule. Und sie hatte in ihrer langen Geschichte schon Schlimmeres überstanden als einen schlauen kleinen Dieb, der ein viel zu ernstes kleines Mädchen immer wieder zum Lachen brachte.
Wäre es nötig gewesen, hätte der Stabsobrist vielleicht sogar für Wiesel ein Auge zugedrückt. Nur war Wiesel tatsächlich so geschickt, dass er niemals gefasst worden war. Mit einer einzigen Ausnahme. Als er hinter dem Thron des Ewigen Herrschers zu intensiv den Boden studiert hatte, hatte er wohl nicht auf die Wachen geachtet – und hatte sich damit herausgeredet, dass er das komplizierte Muster dort für Desina hatte abzeichnen wollen. Genau das hatte er auch getan, nicht ohne dabei eine gewisse Kunstfertigkeit zu beweisen. Desina hatte die Geschichte ohne rot zu werden bestätigt, aber Orikes hatte auch heute noch seine Zweifel. Vor allem, weil Wiesel darauf verzichtet hatte, zu erklären, wie er es geschafft hatte, den Thronraum überhaupt zu betreten. Es gab wohl kaum einen Ort, der besser bewacht wurde.
Seitdem hatte Orikes selbst, mit Wiesels Zeichnung in der Tasche, oft vor diesem verwirrenden Muster gekniet. Wie so vieles, was der Ewige Herrscher hinterlassen hatte, gab auch dieses Geflecht aus Gold, Silber, Quarz und schwarzem Obsidian Rätsel auf. Manchmal ertappte sich Orikes sogar bei dem Gedanken, was wohl geschehen wäre, hätte man Wiesel gewähren lassen.
Kurz, der Stabsobrist hatte so seine eigenen Vermutungen, wer denn der Dieb gewesen sein könnte, der den Beutel eines Agenten des jungen Prinzen Tamin, dem zukünftigen Herrscher von Aldane und wichtigstem Verbündeten der Reichsstadt, einer gewissen Eule zugespielt hatte.
Er rieb sich seine Schläfen mit den Fingern, musterte die junge Frau vor sich und seufzte. Es war noch keine Woche her, dass sie die Prüfung für den dritten Zirkel des Wissens absolviert hatte und so das Recht erhielt, diese Robe zu tragen, und schon hatte sich alles verändert.
»Es gibt noch etwas anderes, das die Lage kompliziert«, teilte er ihr mit. »Gestern Nacht kam ein aldanischer Sondergesandter in Askir an. Ein Baronet Tarkan von Freise. Er ist der Sohn des aldanischen Regenten und Freund von Prinz Tamin, des Thronerben. Der Kommandant wünscht, dass Ihr ihn auf dem Laufenden haltet.«
»Hm«, sagte Desina. »Könnt Ihr mir etwas über den Mann erzählen?«, fragte sie dann.
»Viel weiß ich nicht«, sagte Orikes, während Desina den Apfel begutachtete, den sie gestohlen hatte, bevor sie ihn in ihrem Ärmel verschwinden ließ. »Aber ich hörte, dass der Baronet von Freise ein Stutzer ist und ein Lebemann, vor dem kein Rock sicher ist, und er sich gern durch die Hurenhäuser säuft. Wenigstens tut er so. Aber ich denke, dass mehr dahinter steckt.« Orikes legte das Handtuch zur Seite und griff nach einem sauberen Hemd. »Schließlich hat er das Turnier um die Meisterschaft des Schwerts zweimal hintereinander gewonnen.«
»Wirklich?«, fragte Desina erstaunt. »Er hört sich nicht nach jemandem an, der die Mühe auf sich nimmt, sich auf ein solches Turnier vorzubereiten.«
»Wenn er ein Säufer wäre, könnte er dieses Turnier nicht gewinnen«, sagte der Obrist und lachte leise. »Ich denke, Prinz Tamin weiß, wen er da zu uns geschickt hat. Dieser Baronet von Freise ist weder ein Säufer, noch hurt oder trinkt er. Ich frage mich nur, ob es klug ist, ihn so weit einzubeziehen, oder ihm das mitzuteilen, was Wiesel Euch erzählt hat.«
»Sprach ich von Wiesel?«, fragte Desina möglichst unschuldig.
»Das war nicht nötig.« Der Obrist schüttelte amüsiert den Kopf. »Nun, ich überlasse es Eurer Diskretion, Desina. Ich frage mich, wohin das alles führen wird.« Er sah sie stirnrunzelnd an. »Habt Ihr eine Idee, wie diese Skulpturen uns schaden könnten?«
Desina schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Noch nicht. Mir ist auch so, als hätte ich irgendwann schon einmal etwas über diese Wolfsköpfe gelesen, aber mir fällt nicht ein, wo.« Sie schüttelte frustriert den Kopf. »So viele Bücher, wie ich jetzt schon gelesen habe… Manchmal habe ich das Gefühl, es ist zu viel für mein armes Hirn.«
»Macht Euch keine Vorwürfe«, sagte der Stabsobrist leise, aber bestimmt. »Ihr habt jetzt schon mehr
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