Die Eule von Askir
Vertrag. Man muss ihn nur lesen.«
»Ich frage mich, ob überhaupt jemand diesen Vertrag gelesen hat«, sagte Santer und fischte vorsichtig das Tee-Ei aus seiner Schale.
»Ich habe ihn gelesen. Und ich hoffe, dass zumindest die Herrscher der Reiche den Vertrag auch studiert haben.«
»Alle siebenhundert Seiten?«
»Alle siebenhundert Seiten«, bekräftigte sie. »Wo war ich? Ach ja. Nun, später, als man sich gegen ihre Knechtschaft erhob, konnten die Nekromanten nicht mehr offen agieren. Sie mussten sich verstecken, aus dem Dunkel heraus agieren. Oftmals rekrutierten sie ihre Diener und Anhänger aus den Reihen der Mörder, Diebe und Halunken. Vielleicht entstand der Kult des Namenlosen auf diese Art und Weise: ein Zusammenschluss von Verbrechern, die sich einbilden konnten, wenigstens einem Gott zu folgen, sei er auch noch so hinterlistig.«
»Mit so jemandem haben wir es jetzt hier zu tun?«, fragte Santer.
Sie nickte. »So sieht es aus, nicht wahr?« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wir haben eine Aufgabe, Stabsleutnant, die größer ist, als Ihr Euch vorstellen könnt.«
Er nahm vorsichtig einen Schluck von seinem Tee. Heiß, aber gut. »Erzählt mir mehr von dieser Aufgabe.«
»Es gibt nicht mehr viel zu sagen. Da die Seelenreiter sich oft in den Reihen der Verbrecher verbargen, manches Mal sogar Anführer eines Kults des Namenlosen waren, lag es nahe, dass die Maestros vom Turm auch zur Aufklärung von Verbrechen herangezogen wurden. Zum einen waren sie durch ihre magischen Fähigkeiten dazu bestens geeignet, zum anderen führte es sie auch auf die Spur von Seelenreitern. Außerdem waren sie unbestechlich und unparteiisch. Der Eid einer Eule ist magisch und kann nicht gebrochen werden. Er zwingt uns bis an unser Ende, ihm treu zu bleiben, nicht durch Strafe oder Zwang, sondern dadurch, dass der Wille und der Entschluss, den wir trafen, als wir den Eid sprachen, gegenwärtig bleiben und wir immer daran erinnert werden, dass wir es sind, die als Einzige zwischen den Schutzbefohlenen Menschen und den Nekromanten stehen, die sich an ihnen mästen wie an unschuldigem Vieh.«
Er trank einen Schluck. »Was bedeutet das konkret für mich, für uns?«
»Indem ich den dritten Grad erreicht habe, wurde ich offiziell zu einer Maestra des Turms. Damit gelten für mich auch die Pflichten einer Maestra.« Sie seufzte leise. »Hätte ich all das besser bedacht, hätte ich mich nicht an der Prüfung versucht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich alle Zeit und Ruhe der Welt, mich meinen Studien hier im Turm zu widmen, auch wenn mir viele Dinge verborgen blieben. Aber in dem Moment, in dem ich das erste Mal meine Robe anlegte, erkannte ich, dass ich selbst es bin, die sich dieser Herausforderung stellen will. Niemand kann mich dazu zwingen, meinen Pflichten nachzukommen. Ich glaube sogar ernsthaft, dass der Kommandant vergessen hatte, dass eine Maestra vom Turm noch eine andere Aufgabe hat, als die, herauszufinden, wie man Kornsamen kreuzen kann, oder verhindert, dass Holz in Wasser aufquillt.«
»Das geht?«, fragte Santer neugierig.
Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Es geht. Es mag auch wichtig sein, aber nichts gegen die Aufgabe, die sich uns jetzt stellt.«
»Hm«, meinte Santer. »Haben wir nicht dafür mittlerweile die Inquisitoren?«
»Ay, dafür wurden sie ins Leben gerufen«, bestätigte sie. »Nachdem die Maestros vom Turm vergangen waren, gab es niemanden, der diese Aufgabe übernehmen konnte. Das Amt der Inquisitoren wurde geschaffen, um wenigstens zum Teil diese Lücke zu füllen.« Sie trank einen tiefen Schluck von ihrem Tee und setzte die Schale dann hart vor sich ab. »Vier Inquisitoren stehen im Dienst der Reichsstadt. Ich weiß sehr genau, wie sorgfältig diese Leute ausgewählt und ausgebildet wurden, wie weit ihre Befugnisse reichen. Ich hege eine große Bewunderung für sie, ihre Aufgabe dürfte mit eine der schwersten im Reich sein. Solange ich allein bin und sich keine weiteren finden, die dem Turm beitreten können, wird das Reich sie auch brauchen. Dennoch sind sie nur ein Ersatz für die Eulen. Und da ich zugleich die Prima bin, ist es jetzt auch meine Aufgabe, mich um all die Verbrechen zu kümmern, die in irgendeiner Art und Weise ungewöhnlich oder von besonderer Wichtigkeit sind.«
»Inquisitor Pertok wird erfreut sein«, sagte Santer ironisch. »Er ist seit über vierzig Jahren oberster Inquisitor von Askir, und nun kommt eine Eule daher und beansprucht seinen
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