Die Euro-Lügner: Unsinnige Rettungspakete, vertuschte Risiken - So werden wir getäuscht (German Edition)
meinem späteren Beruf geliefert hat; zum anderen, weil er in seinen Vorlesungen lobend über die Firma IBM berichtete, die den klassischen Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten aufgehoben hatte. Dass es dort tatsächlich »klassenlos« zuging, zeigte sich etwa darin, dass die Lohntüten abgeschafft waren und allen am Monatsende ihr Gehalt überwiesen wurde. Außerdem aßen alle in derselben Kantine und erhielten die gleichen Sozialleistungen, die Arbeiter wurden in die Angestelltenversicherung aufgenommen – eine Regelung, die Dahrendorf als Autor eines Buches über den »Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft« als besonders fortschrittlich hervorhob.
Durch seine Vorlesungen wurde IBM für mich zum Synonym für die Moderne schlechthin. Als ich nach Ende meines Studiums ein Stellenangebot der Firma entdeckte, bewarb ich mich sofort, obwohl mir bereits eine Stelle bei einer Werft sicher war. Wie in Die Macht der Freiheit beschrieben, wurde ich tatsächlich von dem weltweiten Unternehmen eingestellt, dem ich bis zum Ende meiner Karriere angehörte. Während dieser Zeit sollte ich nie vergessen, dass Ralf Dahrendorf mir die IBM gerade wegen ihrer sozialen Ausgeglichenheit gepriesen hatte.
Da ihm die individuelle Freiheit über alles ging, trat Prof. Dahrendorf 1967 der FDP bei. Sofort setzte er sich für eine programmatische Neuausrichtung der Partei ein, die unter Erich Mende für das eher konservative, gut verdienende Bürgertum stand. Zeitweise saß Dahrendorf im Bundestag und diente unter Willy Brandt als Staatssekretär im Außenministerium – kurz, Ralf Dahrendorf war ein erfahrener Insider im soziologischen, ökonomischen und politischen Bereich. Da er 1970 als Außenhandelskommissar nach Brüssel wechselte, konnte er auch als intimer Kenner der Machtverhältnisse in der EU gelten.
Seit er in England lebte, kam zu seiner Expertise noch eine weitere Dimension hinzu: Als britischer Staatsbürger, der er 1988 geworden war, bot ihm die Distanz zu Europa einen nüchternen Einblick in die Verhältnisse auf dem Kontinent. Mit dem für Briten typischen Pragmatismus beobachtete er mit zunehmendem Unbehagen, wie weit in der EU ökonomische Wünschbarkeit und politische Realität auseinanderklafften. Leider verfügen all jene, die heute wie Guido Westerwelle verzückt nach »mehr Europa« rufen, über keinen vergleichbaren Pragmatismus. Stattdessen ersetzen sie die Realität durch ihre Euro-Vision. Es war Bundeskanzler Helmut Schmidt, der einmal sarkastisch bemerkte: »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.« Ich würde eher sagen: Bevor man sich ehrgeizige politische Ziele setzt, sollte man bei Pragmatikern und Realisten wie Ralf Dahrendorf in die Schule gehen.
Natürlich empört es mich, dass die FDP -Spitze auch ihn, wie Otto Graf Lambsdorff, zu vereinnahmen sucht. Dabei unterschlägt sie, dass er in dem neuralgischsten Punkt unserer Zeit, der Euro-Frage, eine vollkommen konträre Meinung vertreten hat. Bei ihrer Umfälschung legen die Mannen um Rösler ein noch raffinierteres Verhalten an den Tag als totalitäre Regime: Während diese ihre Idole, sobald sie ausgedient haben, aus den Geschichtsbüchern verschwinden lassen, behält die FDP ihre Vorbilder bei, verändert jedoch Unterschriften, die über ihr Wirken und Denken aufklären, in ihr Gegenteil. So werden prominente Euro-Gegner der Vergangenheit zu Unterstützern des gegenwärtigen Euro-Kurses umgemodelt.
Tatsächlich war der begeisterte Europäer Dahrendorf, der sogar im Oberhaus saß, ein entschiedener Feind des Euro. Dabei war kaum einer zu diesem Urteil so berufen wie der Direktor der renommierten London School of Economics, der er zehn Jahre lang gewesen war. In dieser Zeit hatte er sein fundiertes soziologisches Wissen um die ökonomische Dimension erweitert, sodass er immer beides im Blick behielt: die Freiheit des Menschen und die unvermeidlichen ökonomischen Zwänge, mit denen er konfrontiert wird.
Als ihn der Spiegel 1995, drei Jahre nach Abschluss des Maastricht-Vertrags, zum Thema Einheitswährung befragte, redete er Klartext: Er wollte diese Währung nicht. »Das Projekt Währungsunion«, so sagte er, »erzieht die Länder zu deutschem Verhalten, aber nicht alle Länder wollen sich so verhalten wie Deutschland.«
Wenn ich das heute lese, frage ich mich, warum bei den vielen Rettungsschirmabstimmungen keiner aufsteht und an diese simple Tatsache zu erinnern wagt. Die Welt will nun einmal nicht »am deutschen Wesen
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