Die Evangelistin
steht in den Listen der weiblichen Gefolgsleute immer an erster Stelle, als hätte sie eine herausragende Stellung – dein Vater, der verwegene Humanist, ging ja sogar so weit, sie als den Verfasser des vierten Evangeliums zu bezeichnen!
Und Mirjam von Bethanien? Lukas bezeichnete sie als glühende Verehrerin Jeschuas. Und Johannes schrieb, dass Jeschua Eleasar, Mirjam und Marta ›liebte‹, also ein besonders enges Verhältnis zu ihnen hatte – weil er in Mirjam verliebt war oder weil sie seine Gemahlin war?
Wie sonderbar, dass zwar Mirjam von Magdala unter dem Kreuz stand und Jeschua unter Qualen sterben sah, nicht jedoch Mirjam von Bethanien. Noch verwunderlicher ist, dass zwar Mirjam von Magdala am Sonntagmorgen das Grab besuchte, nicht aber Mirjam von Bethanien. Warum nicht?«
»Weil sie dieselbe Mirjam sind«, flüsterte Celestina.
»Wie alle Schimons und Jehudas in Jeschuas Gefolge immer nur ein Mann sind – aber dazu später!«, nickte ich. »Ich nehme also an, dass Jeschua während seines Aufenthaltes in Jeruschalajim im Haus eines engen Gefolgsmanns wie Eleasar nächtigte.
Ob die Salbung nun im Haus von Schimon dem Essener oder im Haus von Eleasar stattfand, darüber sind die Evangelisten ebenso uneinig wie über den Zeitpunkt des Mahls. Ich jedenfalls gehe davon aus, dass dieses griechische Gelage zu Jeschuas Ehren abgehalten wurde. Es war ein königlicher Empfang für die engsten Gefolgsleute*. Für jene, die an der Salbung auf dem Hermon nicht teilnehmen konnten, und für jene, die König Jeschua mit den wichtigsten Ämtern betrauen wollte.
Ich hätte doch zu gern gewusst«, spann ich den Faden weiter, »welchem seiner Brüder er welche Aufgabe anvertraut hätte: Jakob … Jehuda … Schimon! Wen hätte er zum Hohen Priester salben lassen? Wen wollte er zum Vorsitzenden des Sanhedrin ernennen? Wer wäre als Gesandter zu Tiberius nach Rom geschickt worden? Und wer wäre als sein Ratgeber in Jeruschalajim geblieben?
Und wer mag an jenem Abend außer Schimon dem Essener anwesend gewesen sein? Joseph von Arimatäa, der ein einflussreiches Mitglied im Sanhedrin war? Der Pharisäer Nikodemus – Nakdimon ben Gorion –, ebenfalls Mitglied im Hohen Rat? Und gehörte auch der berühmte Rabban Gamaliel, der angebliche Lehrer von Paulus, zu den Anhängern Jeschuas? Er war Mitglied im Sanhedrin und setzte sich nach der Kreuzigung im Rat für die Freilassung von Jeschuas Gefolgsleuten ein.
Worüber mochte an diesem Abend gesprochen worden sein? Über die Königssalbung? Die feierliche Zeremonie sollte vermutlich am letzten Tag des Laubhüttenfestes im Tempel stattfinden, anlässlich der Hakhel-Zeremonie. Über die Reaktion des Hohen Priesters Joseph ben Kajafa? Die war absehbar: Gewalt zur Sicherung der eigenen Macht! Ob der Präfekt Pilatus mit seiner bewaffneten Eskorte schon in Jeruschalajim eingetroffen war? Und wenn die Situation im Tempel nun eskalierte? Wenn Joseph ben Kajafa in seiner Panik die Römer rief? Wenn sich die Gewalt auf die mit Festpilgern überfüllte Stadt ausbreitete? Dann gäbe es einen Aufstand, der von den römischen Legionären blutig niedergeschlagen würde!
Hoffnungen und Ängste – das waren die Gesprächsthemen dieses Abends.«
Menandros barg das Gesicht in seinen Händen.
»Folgen wir also Jeschua an jenem letzten Tag des Sukkot-Festes von Bethanien, wo wir die Nacht verbracht haben, bis zum Tempel.
Jeschua schreitet voran, so ungestüm, dass wir ihm kaum folgen können. Er will die Zeremonien im Tempel so schnell wie möglich durchführen. Schimon und Jehuda bleiben, die Hände an ihren Dolchen, dicht hinter ihm, um sein Leben zu schützen. Denn erst gestern wären wir in der Stadt beinahe in eine erbitterte Schlägerei zwischen Juden und Römern geraten.
Tausende Pilger von nah und fern, von allen Orten des jüdischen Exils, waren in die Stadt gekommen, um Sukkot zu feiern: aus Alexandria, Babylon, Athen und Rom. Überall auf den Plätzen, in den Gassen, in den Gärten und auf den Dächern der Häuser und Herbergen waren Laubhütten errichtet worden. Der Duft von geschnittenen Zweigen und den Zitrusfrüchten der Feststräuße erfüllte die Luft. Die Stimmung war ausgelassen. Überall wurden die Psalmen gesungen.
Wir waren durch die Gassen geschlendert, hatten uns an den Marktständen etwas zu essen gekauft und wollten gerade zum Tempel hinaufgehen, um die Prozession der Priester mit den Lulav-Feststräußen um den Altar zu sehen, da tauchte eine Gruppe von schwer
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