Die Evangelistin
sefardischen Synagoge im Judenviertel am Tiberufer, um in tiefer Demut zu beten. Wie jedes Jahr trug er zum Neujahrsfest ein langes weißes Totenhemd, in dem er eines Tages begraben sein würde.
Am Abend aßen Elija und ich Granatäpfel: So viele rubinrote Kerne eine Frucht hatte, so viele unserer Wünsche sollten im neuen Jahr in Erfüllung gehen. Ein ganz zauberhafter jüdischer Neujahrsbrauch – der Elija allerdings sehr traurig stimmte: Er dachte an Granada.
Und sehr oft an seinen Tod.
Würde Kardinal Cisneros, wenn er ihn gefunden hatte, auch nur einen Augenblick zögern, ihn lebendig zu verbrennen – obwohl die päpstliche Bulle bestätigte, dass Elija kein Christ mehr war?
Einen Tag nach Jom Kippur – Elija hatte den Versöhnungstag in der Synagoge verbracht – hörten wir von der Schlacht bei Marignano, die am 13. September stattgefunden hatte.
Die Franzosen eroberten Mailand!
Entsetzt über das Vordringen von König François, beschloss der Papst, dem vorrückenden französischen Heer bis Bologna entgegenzueilen, um die Souveränität des Kirchenstaates zu sichern. Zum venezianischen Botschafter Marino Zorzi sagte er: »Was wird nun aus der Kirche? Und was wird aus Venedig? Wir werden Uns in die Hände des Allerchristlichsten Königs begeben und ihn um Gnade anflehen!« Anfang Oktober brach Leo X. mit seinem Gefolge nach Norden auf und reiste nach Florenz.
Ich war nicht weniger besorgt als Gianni, denn Venedig war mit Frankreich verbündet. Hatte Tristan mit den venezianischen Truppen an der Schlacht teilgenommen? War er verwundet?
Und noch eine andere Frage beunruhigte mich zutiefst:
Was empfand ich eigentlich noch für ihn?
›Wir Juden haben Jeschua aus Israel vertrieben.‹
Mit kratzender Feder schrieb Elija das Vorwort seines Buches nieder.
›Einen der größten Rabbis, eine Leuchte des Judentums, einen Märtyrer für seinen Glauben, haben wir den Christen überlassen, die seine Worte von Liebe und Vergebung wie eine tödliche Waffe gegen uns gewendet haben. Sein blutüberströmter, unter Qualen sich windender Körper am Kreuz ist zum Symbol der endlosen Leiden des jüdischen Volkes geworden – seiner Brüder und Schwestern. Doch im Inferno von Hass und Gewalt, streitbaren Glaubensdisputationen und den auflodernden Scheiterhaufen der Inquisition halte ich unbeirrbar fest an Jeschua, meinem Rabbi, meinem König, meinem Bruder.
Wahrlich, so sprach Jeschua …‹
»Signore?« Die Dienerin stand in der Tür der Bibliothek.
Elija ließ die Feder sinken und sah auf.
»Ihr habt Besuch, Signore. Im Empfangsraum wartet ein Mann, der Euch zu sprechen wünscht. Er sagte, er sei weit gereist, um Euch zu sehen … und es sei nicht leicht gewesen, Euch in Rom zu finden.«
»Wer ist es?«, fragte Elija stirnrunzelnd.
Wer wusste denn, dass wir in Rom waren?
Das Mädchen senkte beschämt den Blick. »Ich habe seinen Namen nicht verstanden, Signore. Es ist ein ausländischer Name. Ich glaube, er heißt Ssssi … oder Ssssinero … oder so ähnlich …« Sie knickste verlegen. »Bitte verzeiht!«
Zutiefst beunruhigt sah ich Elija an.
Kardinal Cisneros?
War er nach Rom gekommen, um Elija nach Córdoba zurückzubringen?
»Führe ihn in die Bibliothek!«, bat Elija das Mädchen, das sofort verschwand, um den Besucher zu holen.
Seine Hände zitterten, als er die Feder ins Tintenfass steckte und sich die Finger an einem Tuch abwischte. Dann schob er den Sessel zurück, erhob sich und trat zum Fenster.
Ich umarmte ihn. »Wo du bist, werde auch ich sein, Elija!«, flüsterte ich und küsste ihn.
Sein Kuss schmeckte nach Verzweiflung.
Das Mädchen öffnete leise die Tür der Bibliothek, um den Besucher einzulassen.
Dann stand er vor uns.
»Jakob!«, rief Elija überrascht und sehr erleichtert. Er umarmte seinen Freund und küsste ihn auf beide Wangen.
Dann begrüßte auch ich Jakob. »Wie schön, dich zu sehen. Was machst du in Rom?«
»Ich suche euch! Und es war gar nicht so leicht, euch zu finden!« Jakob ließ sich erschöpft in einen Sessel sinken. »Ich war in der sefardischen Synagoge – vergeblich! Dann habe ich den jüdischen Gemeindevorstand von Rom aufgesucht – erfolglos! Schließlich habe ich mich durch das Judenviertel gefragt und erfahren, dass Elija in Rom ist, aber nicht im jüdischen Viertel wohnt. Dann habe ich euch im Vatikan gesucht – aber nicht gefunden! Der Papst ist auf dem Weg nach Florenz, um sich mit König François zu treffen, und Mariettas Bruder Angelo ist
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