Die Evangelistin
ihrem Schlafzimmer, schloss die Tür hinter mir und ging hinüber in die Bibliothek.
Mein Tallit und die Tefillin lagen auf dem Schreibtisch. David hatte sie vor drei Wochen aus meiner Zelle fortgenommen, als ich mich nach dem Lesen des Königreichs der Himmel entschieden hatte, fortan als Christ zu leben.
»Elija ist ein freier Mensch!«, hatte Tristan gestern Morgen gesagt.
Ich bin frei, und bin es doch nicht.
Denn wenn ich frei wäre, dann könnte ich nun mit dem Tallit um die Schultern mein Morgengebet halten und nachher in die Synagoge gehen.
Wenn ich frei wäre, könnte ich den Schabbat halten – den Tag, den Gott den Menschen geschenkt hat. Den Tag der Freiheit.
Nein, ich bin nicht frei.
Es hatte mir einen Stich ins Herz versetzt, als Tristan mich am Morgen nach der Prozesssitzung zur Seite genommen hatte, um mir mitzuteilen, dass König Fernando von Aragón gestorben war. Bevor die Thronfolge geregelt war, würde Kardinal Cisneros das Land regieren.
Würden das Versteckspiel, die Verfolgung und die Todesangst denn niemals enden? Würde denn immer ein Todesengel wie Fray Santángel darauf lauern, mich zu verschleppen oder zu töten?
Mit beiden Händen fuhr ich mir über das Gesicht.
Nun war ich wieder ein Christ, wie damals in Granada, als mich die Inquisición mitten in der Nacht aus Sarahs Armen riss und in den Kerker nach Córdoba brachte. Nie wieder durfte so etwas geschehen! Nie wieder durfte ich das Leben meiner Frau und meines Sohnes aufs Spiel setzen! Sarah und Benjamin waren in den Flammen gestorben – aber Celestina und Netanja sollten leben! Nie wieder durfte ich ein Jude sein!
Traurig entfaltete ich den Tallit, barg mein Gesicht in dem weißen Seidenstoff und sog tief den Duft ein – wie bei der Hawdala-Zeremonie, wenn am Abend der Schabbat verabschiedet wird.
Für mich wird es keinen Schabbat mehr geben – nie mehr!, dachte ich schwermütig. Kein Gebet zu Adonai mit Tallit und Tefillin, keinen Besuch in der Synagoge, kein rituelles Bad in der Mikwa, keine Psalmen und keinen Lulav-Strauß am Sukkot-Fest, keinen Sederabend am Pessach-Fest, wie früher in Granada, als ich mit David und Aron hinter der offenen Haustür versteckt die Ankunft des Propheten Elija erwartete, und keinen Versöhnungstag Jom Kippur.
Der Schabbat meines Lebens, die sechs Jahre, in denen ich in Venedig als Jude gelebt hatte, waren endgültig vorbei.
Mein Traum vom Paradies war verloren.
Achtsam, als wäre es eine heilige Handlung, faltete ich den Tallit zusammen. Dann griff ich nach der hölzernen Kassette mit den Intarsienarbeiten, die auf dem Schreibtisch stand. Nachdem ich die gespitzten Gänsefedern, das silberne Federmesser, das Siegelwachs und die Tintensteine herausgenommen hatte, legte ich den gefalteten Tallit, die Tefillin und mein Gebetbuch in die Schatulle und schloss den Deckel.
Aus dem Regal mit Celestinas hebräischen Büchern zog ich Jehuda Halevis Sefer ha-Kusari und einige andere hebräische Werke, schob die Schatulle hinter die Buchreihe und stellte die Folianten zurück auf das Regalbrett.
Als ich Jehuda Halevis Werk in der Hand hielt, dachte ich an die Nacht, als ich Celestina nach dem Attentat hierher begleitet hatte. Ich hatte in diesem Buch geblättert und von seiner Liebe zu Israel gelesen, dem Land unserer Väter.
Langsam schob ich das Buch zurück ins Regal. Es war, als ob ich einen Stein auf das Grab meines Glaubens legen würde.
Dann ging ich zur Tür der Bibliothek und betrachtete nachdenklich die griechische Inschrift, die ich inzwischen lesen konnte: ›Wer werden will, der trete ein. Wer glaubt zu sein, komm’ nicht herein.‹
In jener Nacht, als ich Celestina kennen lernte, hatte Menandros mir erklärt, dieser Spruch sei ihre eigenwillige Version von Platons Worten ›Werde, der du bist‹.
»Celestina meint: Wenn du dich für vollkommen hältst und nicht bereit bist, noch etwas zu lernen, wenn du nicht bereit bist, alles in Frage zu stellen, vor allem dich selbst, dann komm nicht erst in diese Bibliothek! Denn du wirst als ein anderer Mensch herauskommen, als du hineingegangen bist.«
Wie Recht sie gehabt hatte: Seit ich diese Bibliothek betreten hatte, seit wir hier gemeinsam an den Evangelien gearbeitet hatten, war ich ein anderer Mensch geworden. Nichts war, wie es zuvor gewesen war, nicht einmal wir selbst.
Seufzend wandte ich mich ab und öffnete die Tür zum Schlafzimmer.
Celestina schlief fest mit Netanja im Arm.
Ich war noch immer erschöpft von den vier
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