Die Evangelistin
gibt bei uns Juden keine Autorität wie den Papst in Rom, der bestimmen kann: Du wirst Rabbi und du nicht. Die einzelnen jüdischen Gemeinden in aller Welt sind unabhängig.
Kein Rabbi ist einem Papst Rechenschaft schuldig. Ein jüdisches Sprichwort sagt: ›Zwei Rabbinen, drei Meinungen.‹ Aber ich wollte alle diese Meinungen kennen lernen und hatte deshalb fünf Lehrer. Alle waren wegen ihrer Gelehrsamkeit anerkannte Autoritäten.
Nach sieben Monaten ließ ich mich durch Handauflegen zum Rabbi ordinieren. Einer meiner Lehrer fragte mich: ›Warum willst du zurück in dieses von Adonai, unserem Herrn, verdammte und mit Unwissenheit geschlagene Land Sefarad?‹ Das ist der hebräische Name für Spanien. ›Warum bleibst du nicht in Alexandria, Elija Nasir ad-Din, und wirst ein großer Gelehrter, eine Leuchte des Judentums in aller Welt?‹
Und obwohl es der Traum unseres Vaters gewesen war, nach Alexandria und weiter nach Jeruschalajim zu gehen und dort seine Vision von Israel zu verwirklichen, hatte ich mich entschieden, wieder nach Granada zurückzukehren. ›In die Finsternis‹, wie mein Lehrer es nannte. Ich sagte ihm, dass die Finsternis des Lichts bedürfe, um nicht mehr finster zu sein, und dass das Licht der Finsternis bedürfe, um hell zu strahlen und nicht sinnlos zu verbrennen. Die Menschen in Granada warteten seit Monaten auf meine Rückkehr. Ich war der Einzige, der sie lehren konnte. Ich durfte ihre Hoffnungen nicht enttäuschen. Also habe ich Alexandria verlassen, bin zurückgesegelt und war fast neun Monate nach meinem Aufbruch wieder zu Hause.«
»Als Rabbi in einem Land, in dem es offiziell keine Juden mehr gab.«
Ich nickte.
»Warum nannte dein Lehrer dich Nasir ad-Din – Sieger für den Glauben?«
»Das ist ein arabisches Wortspiel. Der Wahlspruch der aus Granada vertriebenen Nasriden-Dynastie lautete: ›Es gibt keinen Sieger außer Allah.‹ Allah war jedoch aus Spanien vertrieben worden … Adonai nicht. Deshalb war mein Ehrenname in Granada Nasir ad-Din.«
Sie lächelte. »Hattest du Schüler?«
»Nur einen.« Ich fing Davids traurigen Blick auf. »Aber hier in Venedig lehre ich die Humanisten die Tora und den Talmud zu lesen. Und Hebräisch, damit sie die Kabbala verstehen können. Und ich studiere die Evangelien, wie ich es schon in Granada getan habe …«
»… damit sich das, was in Spanien geschehen ist, niemals wiederholt«, vermutete sie.
Ich nickte stumm.
»Elija ist ein berühmter Rabbi«, erklärte David stolz. »Eine Autorität. Die Sorbonne in Paris und das Studio in Florenz haben ihm eine Professur angeboten, und auch die Universität von Rom zeigte Interesse. Elija erhält Briefe von Juden aus aller Welt, in denen er um Rat gefragt oder um Entscheidungen gebeten wird.«
Celestina schien David gar nicht zuzuhören. Unsere Blicke versanken ineinander.
Wieder empfand ich dieses wundervolle Gefühl der Sehnsucht nach Liebe, nach Zärtlichkeit, nach Leidenschaft, nach Lust, nach … ja, nach allem, was Judith mir über ihre innige Liebe hinaus nicht geben konnte, weil sie die Frau meines Bruders war. Wie gern hätte ich Celestina in diesem Augenblick geküsst!
»Als Elija aus Alexandria zurückkam, haben wir geheiratet.« David ergriff Judiths Hand. »Und meine Frau hat mir eine wundervolle Tochter geschenkt: Esther.«
Celestina sah mich an und schwieg.
»Elijas und Sarahs Hochzeit war sehr schön«, fuhr David fort. »Der Erzbischof von Granada hat die beiden auf der Alhambra getraut. Es war eine wahrhaft königliche Feier. Aber noch ausgelassener war das Fest in unserem Haus, wo die Hochzeit nach jüdischem Brauch wiederholt wurde. Elija hat Sarah den Ring angesteckt, und dann sind die beiden im Brautgemach verschwunden. Während des ganzen Abends haben wir sie nicht mehr wiedergesehen. Elija und Sarah haben sich sehr geliebt.«
Celestina wandte ihren Blick ab. »Habt ihr Kinder?«, fragte sie mich leise. Sie wirkte enttäuscht.
»Einen Sohn: Benjamin, unser Glückskind«, sagte ich. »Er wurde 1496 geboren und auf den Namen Joaquín getauft.«
»Dann ist dein Sohn jetzt neunzehn … ein junger Mann.«
»Er ist tot.« Meine Gefühle überwältigten mich. »Benjamin starb, als er dreizehn war, nur wenige Wochen nach seiner Bar-Mizwa-Feier, an der ich als sein Vater nicht teilnehmen konnte.«
Celestina sah die Tränen in meinen Augen und fragte betroffen: »Und … Sarah?«
»Sie starb … an demselben Tag.«
Unbeherrscht sprang ich auf, floh zum Fenster
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