Die Evangelistin
jüdischen Leser dieses aramäischen Evangeliums muss sich bei der Erwähnung jenes Berges die Frage aufdrängen, ob Jesus nun nach Moses eine neue Lehre verkündet hat, die die Gebote vom Sinai aufhebt. Aber nein, das wollte er nicht! Sieh nur, hier sagt er: ›Glaubt nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen – ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen und wiederherzustellen.‹
Endlich habe ich verstanden, dass Jesus nicht von einem Berg oberhalb des Sees Gennesaret eine Predigt für die herbeigeströmten Menschenmassen hielt! Denn hier steht ja, dass er nur seine Jünger lehrte. Und noch etwas ist mir klar geworden: Jesus stand nicht aufrecht, um eine Predigt zu halten oder aus der Tora vorzutragen, sondern er setzte sich hin, auf einen Stein oder ins Gras, um seine Jünger zu lehren wie ein Rabbi. Und das Volk hörte ihm zu – so gebannt wie ich!
Ich konnte deine Ehrfurcht vor Jesu Worten spüren. Deine Übersetzung der Bergpredigt ist wortgewaltige Poesie!«
»Es sind seine Worte, nicht meine«, erwiderte ich. »Hebräisch und Aramäisch sind sehr feinsinnige Sprachen. Mit ihren Wortspielen und Gleichnissen sind die hebräischen Evangelien ausdrucksstarke Dichtkunst.«
»Nein, Elija, es sind deine Worte! Die Art, wie du in den Seligpreisungen von Frieden, von Glückseligkeit, Gerechtigkeit und der Gottessohnschaft sprichst, macht sie zu deinen Worten. Deine Stimme höre ich, wenn ich diesen Text lese, nicht seine. Dich sehe ich vor mir, Rabbi Elija, der in einer venezianischen Synagoge die Humanisten lehrt, nicht ihn, Rabbi Jeschua, der auf einem Berg in Galiläa die Tora auslegte.«
Sie neigte sich zu mir herüber und küsste mich.
»Ich bin sehr glücklich«, flüsterte sie und drückte meine Hand.
»Warum?«
»Wenn diese Seligpreisungen der Grundstein des christlichen Glaubens sind und wenn Demut, Trauer, Sanftmut, die Suche nach Gerechtigkeit und das schweigende Erdulden von blutigen Verfolgungen in Jesu Namen christliche Tugenden sind, dann seid ihr Juden wohl die treuesten Anhänger von Rabbi Jeschua. Denn ›selig seid ihr, wenn ihr um seinetwillen geschmäht und verfolgt werdet‹.«
»Auf diese Weise habe ich die Seligpreisungen noch nie gelesen«, gestand ich überrascht.
»Und ich hatte schon befürchtet, du könntest von mir nichts mehr lernen, mein Rabbi«, lächelte sie verschmitzt. »Lass uns nun mit der Übersetzung des Matthäus-Evangeliums beginnen!«
Wir verglichen die griechische Übersetzung des Matthäus-Evangeliums mit dem hebräischen Text in Shemtovs Prüfstein , warfen einen Blick auf die lateinische Übersetzung des Hieronymus und diskutierten jeden Satz, jedes Wort und jeden Sinn aus jüdischer und griechischer, theologischer und philosophischer Sicht – die Rabbinen sagen, dass jedes Wort der Heiligen Schrift auf siebzig Arten ausgelegt werden kann. Dann schrieb ich den rekonstruierten Evangelientext auf Hebräisch nieder.
Während wir uns durch das erste Kapitel hindurchwühlten, erinnerte ich mich an die arabische Übersetzung der Evangelien, die ich vor Jahren angefertigt hatte. Mit jenen christlichen Heilsbotschaften waren Sarahs und Benjamins Scheiterhaufen entzündet worden. Welches Schicksal stand meinen hebräischen Evangelien bevor – und dem Verlorenen Paradies ?
Celestina war sehr aufgewühlt, und je weiter wir in den Text über Jeschuas Geburt vordrangen, desto unruhiger wurde sie.
»Jedes Mal, wenn in den griechischen Evangelien Jeschua als Christos, als Gesalbter, bezeichnet wird, fehlt dieser Messias-Titel in Shemtovs hebräischem Text!«, verzweifelte sie schließlich und begann, als hinge ihr Seelenheil davon ab, bis zur Salbung in Bethanien in Kapitel 26 vorzublättern.
»Fass dich in Geduld, Celestina! Wir Juden warten seit Jahrhunderten geduldig auf den Maschiach.«
Als sie seufzend innehielt, fuhr ich fort:
»Die Passion ist das Ende des Evangeliums, nicht der Anfang. Du kannst Jeschuas Einzug nach Jeruschalajim, seine Lehrreden im Tempel, die Salbung in Bethanien, die Festnahme und den Prozess nicht verstehen, wenn du die anderen fünfundzwanzig Kapitel nicht kennst. Und wenn du nicht weißt, wer Jeschua war und was er gesagt und getan hat – und was sein Vater erleiden musste.«
»Aber Joseph spielt in den Evangelien doch gar keine Rolle! Er starb, bevor …« Erschrocken hielt sie inne.
»Sieh dir Jeschuas Familie an, und du wirst verstehen, warum er keinen Titel brauchte, um sich zu
Weitere Kostenlose Bücher