Die ewige Bibliothek
chemische Analyse wies außerdem nach, dass sie auf gleichartigem und ähnlich gealtertem Pergament geschrieben waren.
Michael hatte voll und ganz damit gerechnet, dass die Entdeckung des »Upsala-Tanzes« trotz der astronomischen Kosten zur dauerhaften Etablierung seines Instituts an der Universität führen würde. Doch zu Semesterbeginn, weniger als eine Woche nachdem er den »Tanz« gefunden hatte, unterzeichnete die Universität einen Arbeitsvertrag mit einem mathematischen Wunderkind, das noch nicht einmal alt genug war, um Alkohol trinken zu dürfen. Und da man nach einer Möglichkeit suchte, die Aufmerksamkeit der Presse auf die neue Zentralbibliothek für Physik zu lenken, wurde der neue Professor zur Attraktion, und Michael mit seinem siebenstelligen Tempo-Taschentuch war schnell vergessen.
Das war vor mehreren Monaten gewesen, und seine Zukunftsaussichten hatten sich nicht eben verbessert. Michael war bis zum Ende des Semesters als Lehrkraft verpflichtet und hatte gehofft, auch über das Sommersemester bleiben zu können, damit er seine Reise nach Bayreuth im August besser finanzieren konnte. Doch bevor er einen Schritt in irgendeine Richtung unternahm, musste er entscheiden, wohin er gehen wollte. Im Ausland könnte er ungehindert seiner Forschung nachgehen, doch er würde die Ressourcen einer Institution verlieren, und obwohl er viele Reisen unternommen hatte, war er noch nie ohne einen festen Wohnsitz gewesen, an den er zurückkehren konnte. In Wien hatte er Fuß gefasst, auch wenn er nicht vollkommen glücklich war, und er liebte seine Arbeit.
Michael seufzte und ließ sich tiefer in den Sessel sinken. Es gab zu viele gute Gründe, hier zu bleiben, statt das Risiko einzugehen, eine feste Anstellung in den Wind zu schreiben. Wenn er lange genug bleiben wollte, um überhaupt für eine Anstellung in Betracht gezogen zu werden, sollte er besser dafür sorgen, dass es eine Abteilung gab, in der er lehren konnte. Die beste Gelegenheit dazu bot die Konferenz, um die der Rektor gebeten hatte. Michael hob den Brief auf, suchte hastig nach dem Termin und stöhnte laut auf. Die Konferenz war auf diesen Nachmittag festgesetzt worden – vor vier Stunden.
Die Aussicht von dem alten Sessel aus liebte er über alles – ihm bot sich ein weites Panorama der Stadt und der Wiener Berge, und auf der äußersten rechten Seite sah er ein Stückchen Donau. Er knüllte den Brief von der Universität zusammen und warf ihn gegen die Fensterscheibe.
Schließlich hatte er es satt, mit den Fingern zu trommeln und vor sich hin zu brüten. Er warf einen Blick auf den Schreibtisch, wo noch immer die pflaumenfarbene Einladung und die orangene Eintrittskarte lagen – und fasste einen Entschluss.
Michael griff nach einer Jacke und der Einladung, öffnete die Tür und ging hinaus, bevor er es sich anders überlegen konnte.
KAPITEL ZWEI
Der Solist
Ein Ton hing hell und klar in der frischen Luft des frühen Abends – ein Ton von solcher Reinheit, dass die Kakophonie der Straßengeräusche, die durch die offenen Balkontüren hereinwehte, ihn nicht übertönen konnte. Passanten, die in dem geschmackvollen Wohngebiet am Rande Wiens unter dem Balkon vorübergingen und hören konnten, wie der Ton in die herannahende Nacht hinaus drang, mochten sich fragen, ob es sich um einen großen, gefeierten Sänger handelte, der sich auf ein Konzert vorbereitete, oder um einen unbekannten Virtuosen, der am Beginn einer wunderbaren Karriere stand. Nur wenige waren sich bewusst, dass es sich um eine Aufnahme handelte, und kaum jemand erkannte, dass diese Aufnahme über zehn Jahre alt war.
Mikaal Gunnar-Galen schaltete den Plattenspieler aus. Dann schaltete er ihn mit einem Zucken seiner Daumen wieder ein, und die reinen, herrlichen Melodien stürmten erneut in den Abend hinaus.
Selbst in einer Stadt, in der musikalische Virtuosität praktisch in den Genen der Kinder liegt, war Mikaal Gunnar-Galen ein noch nie dagewesenes kulturelles Phänomen. Im Alter von drei Jahren trat er den berühmten Wiener Sängerknaben bei und war bald der Mittelpunkt jeder Aufführung. Zwei Dinge wurden schnell offensichtlich: Die üblichen Aufführungsorte, wie bedeutend sie auch sein mochten, konnten seinem Talent nicht gerecht werden, und sein Ego gestattete es ihm nicht, jemals ein echter Ensemblekünstler zu werden.
Als er älter wurde, wurden ihm wegen seiner Fähigkeiten Zugeständnisse gemacht und viele Einschränkungen der Jugendzeit
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