Die ewige Bibliothek
Gesichtszüge huschte, bevor der Stoß erfolgte, doch zu jenem Zeitpunkt interpretierte er diesen Gesichtsausdruck völlig anders. Später bedauerte er zutiefst, dass er seiner Umgebung nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte – er hätte den Vorfall verhindern können. Dennoch konnte er sich nicht entsinnen, jemals bereut zu haben, dass er sich in diese Situation gebracht hatte.
Der Vater des Mädchens war ein kultivierter Mann: ein Bankier, der normalerweise nicht mit gemeinem landwirtschaftlichen Gerät umging. Doch als er die beiden überraschte, fand er plötzlich die Fähigkeit und Lust dazu, von einer gewissen Kreativität in der Anwendung ganz zu schweigen. Als er dem Eindringling, der seine Tochter bestiegen hatte, die Heugabel von hinten in den Nacken rammte, waren Galens Lippen noch immer fest mit ihrer linken Brustwarze verbunden. Der Fehler war gemacht – die Zinken stießen direkt durch Galens Kehle in ihre Brust und durchbohrten ihr Herz.
Sie starb. Galen überlebte.
Doch er hätte ebenso gut tot sein können.
Die folgende Katastrophe hätte Galen fast vernichtet und erschütterte jeden in seinem Umfeld. Der trauernde Bankier, ein wohlbekanntes Mitglied der Gesellschaft, wurde wegen des Angriffs auf Galen festgenommen, verhört und auf Bewährung entlassen. Den Tod seiner Tochter legte man als tragischen Unfall zu den Akten. Galen selbst verbrachte fast vier Monate im Krankenhaus – zu seinem Glück hatten die Zinken sein Rückenmark und die wichtigsten Blutgefäße verfehlt. Zu seinem Unglück hatten sie jedoch seine Stimmbänder durchbohrt und schwer verletzt. Galen würde nie wieder singen.
Das Opernensemble löste sich notgedrungen auf. Eigentlich spielte das keine Rolle mehr, denn der Medienrummel, der Angriff, Prozess und Skandal umgab, führte zu hastigen Veränderungen des Spielplans in jeder Stadt, in der sie auftreten sollten. Niemand wollte sie haben – schon gar nicht ohne Galen. Wie schlimm es auch im restlichen Europa aussehen mochte, in Österreich hatte man den einstmals viel versprechenden Virtuosen zur persona non grata erklärt: Offiziell existierte er nicht mehr. Innerhalb eines Jahres stand Galen ohne Freunde da, sein berufliches Ansehen lag in Scherben und verblasste bereits im Gedächtnis der Öffentlichkeit, und er war so gut wie bankrott. Er fand nur eine untergeordnete Stelle als Musiklehrer an einer Grundschule in Portugal, wo die Qualität seiner Stimme unwesentlich war und sich niemand für die verblassende Narbe an seinem Hals interessierte.
Während seines gesamten Abstiegs plagte ein einziges, nie stattgefundenes Ereignis in Tag- und Nachtträumen Galens Gedanken: Er war nicht in Bayreuth aufgetreten. Er hatte den Siegfried nicht gesungen. Er hatte seine Chance verpasst.
Der Weg zurück zur Ehrbarkeit war so schwer, wie sein Aufstieg in das musikalische Pantheon leicht gewesen war. Galen bewegte sich tiefer in die Welt der Wissenschaft hinein und bildete seine angeborenen Fähigkeiten zu einem äußerst beachtlichen Talent für Musiktheorie und -analyse aus. Meist schrieb und lehrte er unter einem Pseudonym, und als er genug veröffentlicht hatte, ersetzte er die Bürde, der Musikvirtuose Mikaal Gunnar-Galen zu sein, durch den Titel Mikaal Gunnar-Galen, Fachmann für Musik.
Seine Stellung als Lehrer hatte er stufenweise von der Grundschule in Portugal über ein kleines College in Madrid bis zu einem angesehenen Musikkonservatorium in Flandern verbessert. Schritt für Schritt arbeitete er sich nach Bayern und schließlich in seine Heimat Wien zurück.
Die Wiener sind gegenüber Fehlern nicht nachsichtig. Als Künstler war Galen inzwischen nahezu vergessen. Als Akademiker hatte er es jedoch zu einigem Ansehen gebracht und erhielt eine Teilzeitstelle als Stellvertretender Chorleiter des Instituts für Musik an der Universität Wien. Es sollte nicht lange dabei bleiben.
Ungeachtet der Fehler seiner Jugendzeit und des Schadens an Stimme und Seele, besaß Galen noch immer ein beachtliches Ego und einen ebenso ansehnlichen Drang, sich hervorzutun – nicht alle seine früheren Erfolge waren auf angeborenes Talent oder Geschenke von Staatsseite zurückzuführen. Innerhalb von sechs Monaten wurde er zum Vollzeit-Assistenten, und noch vor Ende des Jahres war er Chorleiter. Am Ende seines zweiten Jahres in Wien hatte er den Vorsitz über die Abteilung für Musik inne, und vier Jahre später konnte er den Posten eines Vizerektors übernehmen. Auch
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